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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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leeren blauen Himmel schießt, eine Klapperschlange packt und zu einem Zaunpfosten trägt, um sie dort zu häuten, begreift Brian, dass er Teil dieser Szenerie ist – nichts als ein Tier, ein kompliziertes Tier – und als Tier kann er entweder Opfer oder Jäger sein, ein Ziel oder der Pfeil, der darauf zufliegt.
    Als er jetzt an der Tankstelle die Augen wieder öffnet, sieht er, dass das schlechte Wetter sich verzogen hat, die Wolken in die Wüste davongeweht sind. Der Regen hat die Luft gereinigt, so dass jetzt die Berge zu sehen sind, bestäubt mit frischem Schnee, der in der Sonne funkelt. Ihre Schönheit kann er nur sehr distanziert genießen, denn das leichte Pochen in seiner Schläfe lenkt ihn ab. In solchen Augenblicken beschleicht ihn das Gefühl, etwas hat sich in seinen Schädel gebohrt, um dort herumzuwühlen, in seinem Hirn herumzupfuschen wie ein unachtsamer Schlosser.

JUSTIN
    Justin hat seit drei Monaten nicht mehr mit seinem Vater gesprochen. Nicht, seit er aus dem Krankenhaus zurückkam und anfing, im Wohnzimmer Gewichte zu stemmen, mit nacktem Oberkörper, die Brust zerteilt von einer Narbe wie ein Reißverschluss. »Muss wieder zu Kräften kommen«, sagte er. Als Justin ihn deswegen tadelte, sagte sein Vater ihm, er solle ihn in Ruhe lassen und sich um seine eigenen Sachen kümmern.
    Paul war schon immer wie schlechtes Wetter – unbarmherzig, ausufernd, irritierend –, aber seit dem Herzanfall ist er noch wilder und unvernünftiger geworden, so als würden für ihn, nachdem er dem Tod ein Schnippchen geschlagen hat, die Gesetze des Lebens nicht mehr gelten.
    Die lange Funkstille ist nicht ungewöhnlich. Im Verlauf der Jahre haben ihre Unterhaltungen oft mit einem unverfänglichen Thema begonnen – wie läuft’s in der Arbeit, wie läuft’s beim Fischen. Dann erheben sich die Stimmen im Streit, obwohl sie sich schon nach wenigen Wochen nicht mehr werden erinnern können, worum es eigentlich ging. Das ist der natürliche Rhythmus zwischen ihnen – jede Saison ist für sie wie der emotionale Verlauf eines ganzen Jahres für die meisten Väter und Söhne, in dem die kleinen Stiche der Zuneigung, die man in den Ferien empfindet, unweigerlich abgelöst werden von Streitereien, dann von langen Schweigeperioden und schließlich von einer Versöhnung.
    Das ist der Grund, warum er, als der November naht und sein Vater anruft und Justin zum Zelten und Jagen in den Echo Canyon einlädt, nur einen Augenblick zögert, bevor er Ja sagt.
    »Bist du sicher?«, fragte sein Vater.
    »Ich bin sicher.« Und plötzlich ist er es auch. Er freut sich darauf, den Verkehr hinter sich zu lassen, der durch die Stadt braust, die Abgasschwaden der Lastwagen und SUV s. Er freut sich darauf, frische Luft und etwas Bewegung zu bekommen. Und er freut sich auf ein letztes Wochenende im Echo Canyon, um sich zu verabschieden, denn Bobby Fremont will in der Woche darauf mit den Erdarbeiten beginnen.
    »Gut. Ich glaube …« Hier stürzt die Stimme seines Vaters von einer Klippe, er wirkt plötzlich untypisch verunsichert.
    Justin versucht, den Satz für ihn zu beenden. »Ein bisschen Jungszeit wäre auf jeden Fall gesund.«
    »Genau«, sagt sein Vater erleichtert und seine Stimme bekommt wieder den männlichen Klang, der für Kneipen und Umkleideräume reserviert ist. »Wir trinken Bier und machen einen drauf!« Er räuspert sich. »Und du weißt schon, klopfen ein paar Sprüche.«
    Einige Sekunden vergehen, während Justin sich überlegt, welche Themen zum Sprücheklopfen gehören: Jägerlatein, schmutzige Witze, Heimwerkertipps?
    »Und bring deinen Jungen mit«, befiehlt sein Vater, bevor er auflegt. »Ich mache einen Mann aus ihm.«
    In dieser Nacht hat Justin einen Traum, den er schon lange nicht mehr hatte.
    Er steht auf einer von silbrigem Mondlicht erhellten Wiese. Aus dem ihn umgebenden Wald kommt ein Lied, ein Kinderlied, » Teddy Bear Picnic «. Es klingt gedämpft und krächzend, wie von einem alten Grammophon gespielt. »Wenn du heute in den Wald gehst, tu es lieber nicht allein. Es ist sehr schön heute im Wald, aber sicherer ist es zu Hause.« Der Text, von einem trägen Bariton gesungen, hat ihn schon immer gestört. Seine Mutter behauptet, er hätte aufgeheult und sich die Ohren zugehalten und wäre aus dem Zimmer gerannt, so oft sie ihm als Kind das Lied vorspielen wollte.
    Aus dem Wald tauchen nun in einem Halbkreis bucklige Gestalten auf und kommen auf die Wiese. Ihre Umrisse scheinen zu flirren, zu wabern

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