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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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so ist.
    Jetzt geht ihr Mann an ihr vorbei, durchs Wohnzimmer und den kurzen Gang zum Esszimmer, wo Graham nun wieder sitzt und ihnen zusieht. Justin zieht seinen Stuhl heran und hebt die Serviette vom Boden auf. »Ich habe so viel zu tun, dass ich zu meiner eigenen Arbeit nicht mehr komme. Wenn es dich stört, ruf jemanden an.«
    Sie folgt ihm in den Gang und bleibt dort zwischen den beiden Zimmern stehen. »Meinst du nicht, dass das deine Aufgabe ist?«
    »Ich habe dir doch gesagt, ich habe zu viel zu tun.«
    »Jemanden anrufen? Du hast zu viel zu tun, um jemanden anzurufen?«
    »Nein. Ich dachte, du meinst –« Er schließt die Augen und atmet einmal tief durch. »Wenn du willst, dass ich jemanden anrufe, dann rufe ich eben jemanden an.«
    »Ich will, dass du jemanden anrufst.«
    »Okay. Dann mach ich’s.« Er hat die Augen noch immer geschlossen und senkt jetzt den Kopf, als würde er plötzlich niedergedrückt. »Lass uns das Thema wechseln, okay?«
    »Okay«, sagt sie und meint es wirklich so. Sie will nicht wütend sein. Vor allem vor Graham nicht. Sie betritt das Esszimmer, geht zu ihrem Sohn, legt ihm die Hände auf die Schultern und drückt. »Alles okay.« Er legt den Kopf in den Nacken, um zu ihr hochzusehen, und sie streicht ihm mit der Hand übers Gesicht, das sich zu verändern scheint, sooft sie ihn ansieht. Als er noch kleiner war, lief er in seinen Wollso cken durchs Haus und seine Fingerspitzen sprühten Blitze – die sie am Ellbogen, am Knie trafen –, und eines Tages erschreckte er sie im Bad so sehr, dass sie zusammenzuckte und ihn mit dem heißen Lockenstab an der Stirn traf. Die Narbe hat er noch immer, als kleine Erinnerung an den Augenblick, knapp über der linken Augenbraue. Es war ein Versehen – das sagte sie ihm immer wieder – es war ein Versehen. Aber sie hatte ihm wehgetan, und wenn man dem eigenen Kind wehtut, ist es egal, ob es Absicht ist oder nicht. Die Verletzung ist da, wie aufgeprägt, ihretwegen. Das falsche Wort oder eine erhobene Hand sind nichts anderes als die Giftstoffe in so vielen Lebensmitteln, die sich in ihm einlagern und ihm schaden. Jetzt berührt sie die Narbe und küsst sie. »Alles okay.«
    Sie entdeckt etwas Graues in seinen Haaren. »Du hast da was.« Sie sucht das Etwas mit den Fingern. Als sie sieht, dass es eine Feder ist, schnippt sie sie weg. »O Mann«, sagt sie und streckt die Zunge heraus. »Ich hasse Vögel. Ich hasse sie, seit ich diesen Vogel-Film gesehen habe – wie heißt der gleich wieder?«
    »Die Vögel?«, fragt Justin.
    »Genau den.« Beim Gedanken an die Eule schüttelt es sie. »Gott. Natur.«

BRIAN
    Manchmal scheint die größte Herausforderung des Tages die Entscheidung zu sein, welche Fernsehsendungen er sich anschauen soll. Er lässt sich auf die Couch fallen, zappt durch die fünfhundert Kanäle, die ihm zur Verfügung stehen und schiebt sich Doritos in den Mund, bis die Tüte leer und sein Tarnfarben-T-Shirt orange bepudert ist. Vor ein paar Monaten stieß er im Discovery Channel zufällig auf eine Sendung über Ha utläuferinnen. Das waren Navajo-Hexen, die in Wolfsfelle gehüllt auf allen Vieren herumkrochen. Ihre Augen brannten in ihren blassen Gesichtern wie rote Milben auf Pilzen. Sie sangen ihre Gesänge rückwärts, um böse Geister zu rufen, und sie öffneten Gräber und stahlen den Toten Haare und Haut und Fingernägel und zermahlten alles zu einem Leichenpulver, das sie einem ins Gesicht bliesen, um eine Geisterkrankheit auszulösen.
    Er war schon immer fasziniert vom Übernatürlichen. Als Junge kaufte er sich von seinem Taschengeld die Comichefte der Geschichten aus der Gruft -Reihe, er stibitzte sich vom Bücherregal seines Vaters die Romane von Stephen King und er fragte, ob er bei einem Nachbarn übernachten dürfe, nur weil er sich dort Horrorfilme für Erwachsene anschauen durfte. Nachts wickelte er sich oft so tief in seine Decke ein, dass sie ihn umhüllte wie ein Kokon und nur am Mund ein kleines Atemloch frei blieb.
    In der achten Klasse verkleidete er sich zu Halloween als Affe. Er trug ein Ganzkörperkostüm und eine Maske voller Zähne. In der Schule wusste niemand, wer er war. Er ging zu Mädchen, starrte sie an und sagte nichts, und sie drückten sich an ihre Spinde und versteckten sich hinter ihren Freundinnen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Einige lachten, aber so nervös, dass ihr Lachen gezwungen und keuchend klang. Es war das erste Mal, dass er sich mächtig fühlte.
    Er behielt das Affenkostüm in

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