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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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seiner Entscheidungen schienen inzwischen rein instinktiv, entstanden auf der allerprimitivsten Ebene, wie damals, als die Bombe detoniert war und er die Arme hochgerissen hatte, um sein Gesicht zu schützen – und plötzlich war er wieder auf dieser Straße, als die Explosion den Hummer erfasste, ihn hochhob und aufriss, und ihn einfach nur überraschte, nicht ängstlich oder wütend oder sonst etwas machte, nur überraschte, während die ersten Funken des Adrenalins durch ihn rasten, wie bei der plötzlichen Schussfahrt einer Achterbahn, kreischendes Metall, Himmel und Erde durcheinander, etwas, worüber er später lachen sollte.
    Und dann bewegte die Welt sich wieder, schlingerte vorwärts, und Dave schrie ihn mit einem Mund voller Blut an: »Bei dir stimmt doch im Kopf was nicht!«
    Er erreicht eine Wiese, einen Kreis aus Mondlicht, und er eilt zum anderen Ende des silbrigen Freiraums, wo der Wald weitergeht. Dort warten die Schatten auf ihn – so tief, dass sie greifbar erscheinen, wie Umhänge, in die er sich einhüllen kann. In den Schatten fühlt er sich am sichersten. Sie gleiten über seinen Körper, als würden sie ihn lecken, voller Freude über ihre Wiedervereinigung. Unter den Bäumen ist es schwer, etwas zu sehen, und manchmal kann er Dinge hören, die durchs Unterholz brechen, aber er hat keine Angst, ist nur ab und zu überrascht, etwa, wenn eine Eule durch eine Säule Mondlicht fliegt, die Flügel still, das Gesicht so rund und weiß wie ein Teller.
    Manchmal stapft er durch Bärentraubengestrüpp und manchmal folgt er Wildwechseln – festgetretene und gefurchte Erde, einen knappen halben Meter breit –, die mal links, mal rechts abbiegen, selten gerade verlaufen, ein beständig sich windender Korridor, der die Löcher in der Wand aus Bäumen findet. Äste krallen nach ihm, aber sein Kostüm schützt ihn, ein beweglicher Panzer. Er schiebt sich durch Heidelbeergestrüpp und der Geruch der drallen, späten Beeren bleibt bei ihm, schwärzt seinen Pelz mit ihrem Blut. An manchen Stellen wird der Boden unvermittelt weich, Schlammtümpel, die der Sturm hinterlassen hat. Der Schlamm klebt an seinen Stiefeln, und hin und wieder bleibt er stehen, um ihn an einem Stamm abzukratzen. Er hört das Rauschen des Flusses, lange bevor er ihn sieht, und als er um eine Ecke biegt und einen Abhang hinuntersteigt, bleiben die Bäume zurück und er steht in Mondlicht getaucht. Der Fluss hat die Farbe von Quecksilber. Er läuft am Ufer entlang bis zu einem umgestürzten Baum, der breit genug ist, um seitlich darüberzubalancieren, und taucht dann wieder in den Wald ein, der jetzt bis zur OB Riley reicht, zu ihrer Straße, ihrem Viertel.
    Etwas bewegt sich in ihm. Seit er diese Frau, Karen, kennengelernt hat, hat er, was man nur als Gefühle beschreiben kann. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt er sich, als wäre er mehr als eine Reflexmaschine, mehr als jemand, der nur will und nicht will. In diesem Fall ist natürlich Wollen da, aber unter diesem Wollen liegt eine gewisse menschliche Zärtlich keit, vielleicht. Es ist ein Labyrinth der Gefühle, dessen Ende er nicht kennt und dessen Verlauf er durch den Wald folgt.
    Er ist draußen, lehnt, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, an einem Streifenwagen. Ein Pfütze Erbrochenes dampft vor seinen Füßen. Sein Mund schmeckt nach Säure. Ein stämmiger Beamter steht neben ihm, und ein anderer etwa zwanzig Meter entfernt, er schreibt etwas auf einen Block und spricht mit Dave und Jim, die mit verschränkten Armen dastehen. Die Nacht hat sich über die Stadt gelegt. Trotz der Straßenlaternen, der Scheinwerfer und dem roten und blauen Blitzen des Streifenwagens sind die Schatten so dicht, dass alles wie eine Bedrohung aussieht, die Leute, die über den Bürgersteig gehen und ihn anschauen, ihre Gesichter scharf und zahnreich, Hemden und Jeans dunkel, so dass sie mit der Nacht zu verschmelzen, von einem Augenblick zum nächsten zu verschwinden und wieder aufzutauchen scheinen.
    Seine Stirn pocht im Rhythmus seines Herzens. Sein Sehvermögen schlingert auf gelben Wellen der Betrunkenheit. Er ist nicht mehr wütend. Er fühlt sich taub, leer. Als er deshalb Dave reden hört – Dave, der versucht, den Beamten zu überreden, ihn nicht einzusperren, indem er sagt: »Man kann nicht einfach von kein Gesetz zu Gesetz wechseln. Das geht einfach nicht« –, war er ihm nicht so sehr dankbar, sondern hoffte einfach nur, dass das hier bald vorbei sein würde und er dann würde

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