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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Schrotflinten, sogar Bazookas« – mechanischer Abnutzung ausgesetzt sind wie auch schädigenden Wettereinflüssen und unsachgemäßer Behandlung, etwa, dass man sie in einen Fluss fallen lässt. »Das hat dein Alter mal gemacht, weißt du. Hat er dir das je erzählt?« Wieder dieser Blick.
    Man sollte meinen, dass Justin nach so vielen Jahren eine gewisse Unempfindlichkeit gegen die Sticheleien seines Vaters entwickelt haben müsste, wie ein Nerv, der unter wiederholter Gewalteinwirkung taub wird. Aber nein. Auch wenn er die Arme verschränkt und seine Miene neutral hält, zuckt ein Teil von ihm doch zusammen. Sein Vater zielt immer auf die Säume, er hofft sie aufzureißen, damit seine Füllung herausquillt. Manchmal wehrt sich Justin, aber meistens presst er nur die Lippen zusammen und verkneift sich jede Erwiderung, weil er die anstrengenden Wochen vermeiden will, die nötig sind, um einen Bruch zwischen ihnen zu kitten.
    Sein Vater zeigt Graham, wie man kontrolliert, ob die Waffe wirklich entladen ist, wie man nach möglichen Blockaden sucht, indem man die Mündung gegen das Licht hält und von der Kammer zur Mündung schaut. Er nimmt eine Kupferdrahtbürste und schiebt sie durch den Lauf, um Grate und Körnchen zu entfernen. Dann taucht er einen Stofflappen in Lösungsmittel, befestigt ihn an der Spitze des Reinigungsstabs und schiebt ihn ebenfalls durch den Lauf, gefolgt von einem trockenen Lappen und einem Lappen mit einem Hauch Waffenöl. Dann reinigen sie alle sichtbaren Teile der Mechanik, die Innenseite des Rahmens, die Front des Verschlussblocks mit einer harten Zahnbürste. »Spiegelsauber«, nennt er es.
    Diese Lektion hat Justin in seiner Jugend sehr oft gehört. Als er nun miterlebt, wie sie an seinen Sohn gerichtet wird, der seinen Großvater mit großen, feuchten Augen anschaut, ist er gerührt und besorgt zugleich. Er denkt an das, was Karen heute Morgen gesagt hat: »Lass nicht zu, dass er ihn herumkommandiert, so wie er dich herumkommandiert!«
    »Ich werde mir Mühe geben«, sagte er, und sie sagte: »Versuch es wenigstens. Bitte!«
    Sie stand am Spülbecken, während sie mit ihm sprach, und trocknete sich die Hände mit einem Waffeltuch. Das Licht strömte durchs Fenster und strahlte sie an wie ein Bühnenscheinwerfer, und er erinnert sich, dass er sie anschaute, wirklich anschaute. Sie hat einen jungen Körper, dessen wahres Alter man nur erkennt, wenn man sich ihr Gesicht sehr genau ansieht. Die kleinen Fältchen an Augen und Mund. Die Adern, die sich schwach an ihren Schläfen abzeichnen. Die Konstellation von winzigen Altersflecken auf ihrer Wange. Es war, als wären verschiedene Menschen zusammengemischt, und er war sich nicht sicher, wie viel an ihr noch der Frau ähnelte, in die er sich verliebt hatte.
    »Was ist?«, fragte sie. »Was starrst du so?«
    »Nichts.«
    Graham kam in die Küche und stellte seine Müsli-Schüssel auf die Anrichte. Sie küsste ihn auf die Stirn, fragte, wie es ihm gehe – »Gut« –, und ob er aufgeregt sei – »Ja.« Sie lächelte schwach und warnte mit einer Stimme, die an sie beide gerichtet war: »Bitte seid vorsichtig!«
    »Ich bin immer vorsichtig«, sagte Graham.
    »Das weiß ich doch. Das weiß ich. Aber denk daran, dass dein Opa seine Grenzen nicht mehr kennt. In vieler Hinsicht ist er mehr Kind als du.«
    Jetzt sieht Justin seinem Vater zu, der ihre Ausrüstung zusammensammelt und zwischen Haus und Bronco hin und her geht, so beladen mit Gewehren, Munition und Angelausrüstung, dass seine Bewegungen ein metallisches Klirren produzieren, wie die Bewegungen von Schlüsseln an einem Ring.
    Auf der Straße mit dem roten Belag fahren sie in die Wüste, Bend liegt hinter ihnen und vor ihnen die Ochocos. Die große orangene Scheibe der Sonne scheint den Himmel ganz für sich allein zu haben. Sie schwebt über ihnen und taucht sie in ein flirrendes Licht.
    Nach fünf Minuten Fahrt dreht Justin sich um und sieht Graham still auf der Rückbank sitzen und dahinter die Masse der Häuser, die in der Ferne bereits verschwommen und grau wird. Vor ihnen geht das Land allmählich ins Vorgebirge über und aus dem Vorgebirge wachsen schneebedeckte Gipfel, die große Stücke aus dem Himmel schneiden. Die Cascades sind immer der Orientierungspunkt für Justin. Sooft er sich in seinem Leben verirrt hat, ob beim Wandern im Wald oder bei einer Fahrt über irgendeine winzige Landstraße, brauchte er nur die vertraute bekrönte Spitze der North Sister oder das Plateau des

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