Wölfe der Nacht
und die Szene, die Brian vor Augen hatte, aussehen ließen wie eine traurige, frisch geschüttelte Schneekugel.
»Dad?«
Sein Vater ließ die Hand sinken und betrachtete Brian mit zugekniffenen rot geränderten Augen.
»Dad? Kann ich was für dich tun?«
»Nein.« Die Stimme seines Vaters klang heiser. »Es gibt nichts, was du tun kannst oder sonst irgendjemand –« Er versuchte, sich aufzusetzen, kippte ächzend nach vorne und rutschte dann wieder in seine Ausgangsposition am unteren Rand des Kühlschranks. Kein Wunder: Die Küchenanrichte war vollgestellt mit Flaschen Coors Light, viele davon mit abgekratzten Etiketten. Als sein Vater den Kopf schüttelte, riss er einige Magneten von der Kühlschranktür, die klappernd zu Boden fielen. Er lachte freudlos. »Schau dir deinen Alten an. Schau ihn dir an. Und hör zu.« Er drohte mit dem Finger in eine Richtung, wo Brian nicht stand, wo nur Schneeflocken wie feuchte Fetzen geschredderten Papiers fielen. »Hör auf ihn, wenn er dir sagt, wenn du nicht aufpasst, kannst du wo landen, wo du es gar nicht erwartet hast. Man kann sich entscheiden im Leben. Und du kannst die falschen Entscheidungen treffen, die aussehen wie die richtigen – das geht sehr leicht –, und bevor du deinen ersten Fehler korrigieren kannst, merkst du …« Er schaute sich um, als wollte er in der Küche die richtigen Worte finden. Er hob einen Magneten auf – einen Clown mit einer Handvoll Luftballons – und wog ihn in der Hand. »… merkst du, dass du ein Leben führst, das du eigentlich gar nicht erwartet hast.«
Er schwieg lange. Er biss sich auf die Unterlippe, als wollte er wieder verschlucken, was er eben gesagt hatte, weil er vielleicht erkannt hatte, dass man so etwas nicht zu seinem eigenen Sohn sagt, der ja nur ein Junge und noch blind für den Schmerz der Welt war. Vielleicht erkannte er, dass Brian sich ein Leben lang an diesen Augenblick erinnern würde, immer und immer wieder daran denken würde, die Erinnerung kristallisiert wie eine Schneeflocke, die nicht schmelzen will. Sein Gedächtnis war sein Geschenk und seine Behinderung. Er erinnerte sich an alles. Er erinnerte sich sogar an seine Träume, so dass sie gestochen scharf mit seinem wachen Leben verschmolzen. Und an diesen Augenblick erinnerte er sich ganz besonders, weil sein Vater immer so optimistisch gewirkt, gelächelt, gepfiffen und gesagt hatte: Sieh’s von der positiven Seite. Dass er so traurige Gedanken in sich trug, verfolgte Brian und half ihm, den Unterschied zwischen der Oberfläche und dem Wesen, der Wahrheit der Dinge zu erkennen. Und so kam es Jahre später, als sein Vater ihn schüchtern fragte, ob er vielleicht für ihn arbeiten wolle, worauf Brian antwortete, er denke eher ans College, und sein Vater erwiderte: »Mir ist beides recht. Mir ist alles recht, solange du nur glücklich bist«, dass Brian dies als Lüge durchschaute. Wenn er sich dazu entschied, in den weißen Pick-up zu steigen, in Schlösser zu spähen und seine Werkzeuge auf Türschwellen im ganzen Deschutes County zu schärfen – wenn er sich für dieses Leben entschied –, könnte sein Vater dieses zerbrochene Küchenfenster reparieren und die Worte, die er am Kühlschrank lehnend gesagt hatte, wieder löschen. Sein Leben würde wieder lebenswert werden und die Entscheidungen, die er vor so langer Zeit bedauert hatte, diese falschen Entscheidungen würden ihm wieder als die richtigen erscheinen. Brian begriff das und präsentierte als Antwort auf die Lüge seines Vaters nun seine eigene, er werde, er werde es tun, habe tatsächlich schon immer vorgehabt, bei Pop-A-Lock zu arbeiten, nur wolle er zunächst Abenteuer erleben, wolle lernen und deshalb habe er vor, sich beim Reserveoffizier-Ausbildungskorps zu melden. Sie würden seine College-Ausbildung bezahlen und er würde den Marines vier Jahre schenken und dann würde er nach Bend zurückkehren, zu seinem Vater. Er hatte nie vor, das Versprechen zu halten. Wenn er zu dieser Zeit zu McDonald’s ging oder einen Mülllaster über die Straße rumpeln sah, empfand er eine grässliche Form des Mitgefühls, stellte sich sein Leben wie das ihre vor – über den Grill gebeugt Fleischscheiben umdrehend und nach ihrem Fett riechend oder am Heck eines Lasters hängend, der Müll schluckte und triefte vor Hühnerblut und saurer Milch, zu Hause nichts, auf das er sich freuen konnte, außer einer Frau mit dickem Hintern und drei plärrenden Kindern. In Bend war das die Falle, die ihn
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