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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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noch eine, einige mit Stimmen wie metallisches Raspeln, andere wie ein zwitscherndes Tröten. Graham schaut sich über die Schultern, vielleicht fragt er sich, ob er heute Nacht aufwachen und irgendein Phantom über ihm lauern sehen wird. »Sie klingen traurig«, sagt er schließlich.
    Sein Großvater nickt und trinkt einen Schluck Bier. »Das tun sie wirklich.«
    Eine Weile sitzen sie nur da und lauschen dem Gesang der Eulen, ihrem entfernten Klagen.
    »Wenn ich so ein Lied singen könnte«, Großvater stochert mit einem Stecken im Feuer, und die Funken steigen hoch und werden kleiner und kleiner, bis die Dunkelheit sie umschließt. »Ein Lied darüber, wie ich mich fühle. Das wäre dann aber ein Lied.«
    Von seinem Gürtel zieht er einen Gerber Hirschfänger und klappt die Fünfzehn-Zentimeter-Klinge auf, die fleckig und schartig ist von vielen Jahren des Tierehäutens und Fischeausnehmens und Holzschnitzens. Damit spitzt er seinen Stecken an. »Kennst du irgendwelche Geschichten, Graham? Gruselige?«
    Graham überlegt eine Weile und setzt dann zu einer Geschichte an, die er in der Schule gehört hat. Es geht um einen buckeligen Alten, der unter der Stadt lebt und kleine Jungs nach unten in die Dunkelheit zerrt, wenn sie die Hand durch Gullyroste stecken, um ihre verlorenen Baseball-Bälle zu holen. »Wisst ihr, dass Pepto Bismol die Kacke schwarz macht? Na ja, dieser Kerl ist so böse, dass er schwarz kackt, auch wenn in seiner Kacke gar kein Pepto Bismol ist.« Er redet noch eine Weile weiter, bis sein Großvater ihn unterbricht und sagt: »Ich habe eine Geschichte.«
    Eine Motte flackert vorbei und verschwindet.
    »Dann erzähl«, sagt Justin.
    »Vor langer Zeit«, sagt er, so langsam wie Atmen, »ist hier etwas Dunkles passiert.« Er mustert Graham und Justin, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu versichern. »Es war der Sommer von Red Mornings fünfzehntem Jahr, und wie jeder Indianerjunge machte er sich auf zu einer Visionssuche.« Inzwischen hat er sechs Bier, und seine Stimme klingt, als würden sie bereits Wirkung zeigen. »Hier in diesem Canyon.« Er zielt mit dem Messer zur Betonung auf den Boden, bevor er sich wieder an sein träges Schnitzen macht.
    »Also, wenn man auf eine Visionssuche geht, darf man nicht essen oder trinken oder schlafen. Man muss einfach dasitzen – auf deinem Büffelfell oder was auch immer – und eins werden mit der Natur und irgendwann kommt dann dein Geisttier aus dem Wald und sagt dir etwas, das du nie vergessen wirst, zumindest eine ganze Weile nicht. Und dann kehrt man als Mann in sein Dorf zurück. Dieser Red Morning findet also eine hübsche Wiese und wartet, dass die Geister ihn rufen, vielleicht zwei Wochen, und dann –«
    »Ohne Wasser hält man es nur vier Tage aus«, sagt Graham. »Dann stirbt man.«
    »Indianer sind aus anderem Holz geschnitzt. Sie sind zäher.« Er zeigt mit dem Messer auf Graham. »Und wenn du mich noch einmal unterbrichst, werfe ich dich in den Fluss.«
    Graham lächelt und bedeckt das Lächeln mit den Händen.
    »Er wartet also drei Wochen. Die Lippen platzen auf. Die Haut wirft Blasen. Spinnen und Ameisen und Moskitos beißen ihn. Und schließlich kommt sein Geisttier. Als er es aus dem Wald kommen sieht, denkt er anfangs, es ist ein Mann, der in Felle gewickelt ist. Aber das ist es nicht. Es ist groß und nackt und über und über mit groben schwarzen Haaren bedeckt. Es riecht nach verdorbenem Fleisch. Und es hat lange gelbe Klauen. Aber Red Morning hat keine Angst. Er weiß, es wird ihm etwas Wichtiges sagen. Es sagt nur ein einziges Wort, bevor es in den Wald zurückkehrt: › Töte. ‹ «
    Er bekommt einen verträumten Ausdruck und erzählt mit leiser Stimme, wie Red Morning dann aufsteht und seine schmerzenden Muskeln streckt und eben sein Büffelfell zusammenrollen will, als er ganz in der Nähe, nur um eine Biegung des Canyons herum, Rauch in den Himmel steigen sieht.
    »Er läuft nach Hause wie nur ein fünfzehnjähriger India nerjunge laufen kann, so schnell, dass seine Füße den Boden verlassen und er richtig fliegt. Er spürt keinen Hunger und keinen Durst mehr. Er hat noch einen Schmerz in der Magengrube, aber das ist ein anderer Schmerz, als würde das ganze Blut in seinem Körper sich heiß dort sammeln.
    In der Nähe des Dorfes klettert er auf eine Böschung, damit er sehen kann, was los ist, bevor er sich ihm stellt. Ungläubig starrt er die Szene unter sich an. Das Räucherhaus brennt. Die Schwitzhütte wurde eingetreten.

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