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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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sich. Kleine, klare Tropfen hängen an den Spitzen der Giftzähne. »Hast du gewusst, dass die Chinesen das Gift für ein Aphrodisiakum halten? Und dass die Indianer glauben, dass es heilsame Kräfte hat?«
    »Die Indianer?«, fragt Graham. »Oder die Inder?«
    »Beide.«
    Mit dem Messer verbreitert er das Grinsen der Schlange und entfernt die Giftdrüsen. Es sind durchsichtige Säcke von gelblich weißlicher Farbe, die aussehen, wie aus Spinnennetzen gemacht. Er steckt sie in eine Flasche Jack Daniels. »Ein Snack für später.«
    Das inzwischen gare Fleisch ist leuchtend rosa, wie Plastik. Er würzt es mit Salz und Pfeffer, bevor er es auf einen Teller löffelt. »Haut rein.« Sie füllen sich den Mund mit Schlange, und die Schlange ist so gut – wie etwas zäheres Schweinefleisch –, dass es ihnen Appetit macht. Sie spüren, wie es sich in ihren Bäuchen entrollt und rasselt und zischt und nach mehr verlangt. Deshalb füttern sie sie.
    Sie legen die Forellenfilets in die Pfanne, wo sie wütend zischen. Justins Vater dreht sie mit einem Teleskop-Wender um, brät sie weniger als fünf Minuten und serviert sie auf Blechtellern, die noch feucht sind von der Schlange. Sie essen das bröselige graue Fleisch mit den Fingern und spucken die Gräten aus, während der Canyon um sie herum immer dunkler wird.
    Lange Zeit hört man nur das Rauschen des Flusses und gelegentliches Knacken, wenn eine Coors-Dose geöffnet wird. »Ich dachte, Dad hätte mir gesagt, der Arzt hat dir gesagt, du sollst nicht mehr trinken«, sagt Graham, und sein Großvater sagt: »Das heißt aber nicht, dass ich deswegen weniger trinke.« Dann verfällt er in ein sehr privates Schweigen und sieht aus wie ein Stillleben, die Hand auf Boos Kopf, bewegungslos, den Blick mit distanziertem Ausdruck ins Feuer gerichtet.
    Justin sammelt die Teller ein und trägt sie zum Fluss und schrubbt sie mit Sand und einem Spritzer biologisch abbaubarem Spülmittel, das den Fluss hinunterschäumt. Zurück im Lager packt er die Kochutensilien in einen großen Leinensack, den er später an einen Baum hängen wird.
    Inzwischen ist die Luft schwer von den Schatten, die der frühe Abend bringt, jetzt, da der Herbst in den Winter übergeht, jeden Tag ein bisschen früher. Lautes Schreien lässt Justin zum Himmel schauen, wo ein Schwarm Gänse in V-Formation nach Süden zieht. Eine von ihnen scheint betrunken zu sein, sie geht tiefer und entfernt sich kreisend von den anderen. Er sieht, dass es eine Eule ist, die Motten aus der Luft pickt.
    Dann entdeckt er noch eine. Und noch eine dritte. Er nimmt sein Bier und schlendert vom Lager weg und in der immer tiefer werdenden Dämmerung beobachtet er die Eulen, die von hohem Ast zu hohem Ast fliegen, um sich einen Schlafplatz zu suchen.
    Sein Vater kommt zu ihm. »Was machst du?«
    »Ich schaue nur. Schaue mir die Eulen und die Bäume und alles andere an.«
    »Bäume hast du schon immer gemocht«, sagt er. Justin riecht das Bier in seinem Atem und hört es in seiner Stimme, in dem freundlicheren, entspannteren Ton. »Ich weiß noch gut, als du ein Baby warst. Eines Abends wolltest du einfach nicht aufhören zu weinen. Also habe ich dich nach draußen getra gen und mich mit dir unter einen Baum gestellt, und du bist sofort eingeschlafen.«
    Justin schaut ihn an wie zum ersten Mal. »Diese Geschichte habe ich noch nie gehört.«
    »Du hast Bäume immer schon gemocht.«
    »Wirklich?«
    »Klar.«
    Die Dunkelheit kriecht bis direkt ans Feuer. Justins Vater sitzt auf dem Klappstuhl, während Graham und Justin mit den Stämmen vorliebnehmen, die sie zuvor aus dem Wald geschleift haben. Die Pyramide des Feuerholzes glüht gelb an der Spitze und orange in der Mitte, während die Holzkohle ganz unten schwarz glasig glänzt wie Obsidian. Die Flammen werfen dunkle Schatten auf die Weiden der Umgebung und sprühen Funken in die Luft, und die Nacht wird zu einer flackernden Vision aus orangem Schein und sich bewegenden schwarzen Umrissen. Aus weiter Ferne kommt ein klagender Schrei, der alle anderen Geräusche im Canyon unterbricht.
    Graham steht auf. »Was ist das?«
    »Das ist eine Eule«, sagt Justin.
    »Es klang wie ein Dinosaurier. Ich meine, wie die Dinosaurier in den Filmen.«
    Boo trottet zum Rand des Lagers und bellt einmal. Nachdem er sich selbst bewiesen hat, kommt er schleunigst zurück.
    Graham setzt sich auf den Baumstamm. Ein paar Minuten vergehen, bevor das Kreischen wieder anfängt. Aus dem Wald ertönt eine andere Eule, dann

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