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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Sohn schläft noch, einen Arm über dem Gesicht, deshalb steht Justin so leise auf wie er kann, zieht seine Jeans und das langärmelige Shirt von Patagonia an, das er viel zu teuer bezahlt hat, als er mit Graham im REI beim Einkaufen war und sich mitreißen ließ. Über 400 Dollar gab er aus, nachdem eine übereifrige Verkäuferin in einer grünen Weste sie quasi in eine Familienmitgliedschaft drängte und sie von Kleiderständer zu Kleiderständer führte, während sie wie ein Schnellfeuergewehr davon sprach, wie wichtig Ausrüstung sei – das war das Wort, das sie dauernd benutzte, Ausrüstung – und unter anderem betonte, wie wichtig das sogenannte Dry-Core-Weave bei jedem Shirt sei, da diese Webtechnik die gefährliche Feuchtigkeit von der Haut fernhalte usw. Jetzt denkt er, er hätte das Geld lieber für eine Luftmatratze ausgegeben. Er war seit Jahren nicht mehr Zelten, und an die Nächte ohne sein Bett ist er nicht mehr gewöhnt. Sein Rückgrat fühlt sich an, als wären alle Gelenke steif geworden, als wäre das Öl aus ihnen ausgelaufen.
    Er tritt nach draußen, streckt den Rücken und schaut sich den Morgen an – die Bäume, die tief unten noch im Schatten sind, während das Sonnenlicht die obersten Äste entzündet. Dann bemerkt er das taufeuchte, niedergetrampelte Gras, das in einer Spur um das Zelt herum führt. Langsam folgt er der Spur, als würde er erwarten, dass ihn hinter jeder Zeltecke etwas anspringt, bis er den Kreis komplett abgegangen ist. Dann verlässt er die Spur niedergetrampelten Grases und starrt sie lange an, denn die Erinnerung an die vergangene Nacht steigt ihm wieder ins noch vernebelte Hirn. Er spürt die Angst nicht mehr, die er nachts gespürt hat, nur ein leichtes Unbehagen, ausgelöst von seiner Beobachtung: Was immer sie besucht hat – Hirsch oder Bär oder Kojote, fragt er sich –, hat sich nicht nur angeschlichen, um mal kurz zu schnuppern. Der breite Pfad niedergetrampelten Grases deutet auf ein ausdauerndes Kreisen hin, das ihn an Geier am Himmel e rinnert.
    Ein Harzeinschluss platzt und lenkt seine Aufmerksamkeit zum Lagerfeuer, das im Augenblick unbeobachtet ist.
    Er schaut sich nach seinem Vater um, schaut nach Westen, wo die letzten Wolken langsam von ihm wegziehen und das blaue Gewicht des Himmels hinter sich herzuschleifen scheinen. Der Regen hat Feuchtigkeit hinterlassen, die als milchiger Dunst aus dem Boden kriecht. Knapp kniehoch bedeckt er die Wiese und macht alles, was mehr als zehn Meter ent fernt ist, grau und undeutlich. Während er hineinstarrt, schießt ein Rotschulterstärling heraus und huscht an ihm vorbei zum Fluss, wo er einen Hund bellen hört.
    Er entfernt sich ein paar Schritte vom Lager, geht auf das Brausen des South Fork zu, bis der Fluss sichtbar wird. Der Dunst zieht in dichten Schwaden zur Wasserfläche. Er entdeckt seinen Vater, er steht nackt am Ufer. Er sieht aus wie auf einer Wolke. Einen Augenblick lang verdeckt ihn ein plötzlicher Dunstwirbel. Und dann taucht er, sich mit den Fingern durch die feuchten Haare fahrend, aus den dichten Schwaden auf, als würde er einen Umhang abwerfen.
    Das kalte Wasser hat seine Haut gestrafft und gerötet, und seine feuchten Haare wirken völlig schwarz und kleben wie Algen an seinem Kopf. Einen Augenblick lang sieht Justin ihn so wie er war, vor so vielen Jahren. Wie das blühende Leben. Er erinnert sich, wie sein Vater im Keller Gewichte stemmte, und wie das Haus vibrierte, wenn er zweihundertfünfzig Pfund über den Kopf stemmte und dann wieder zu Boden krachen ließ. Wie er in einem Winter, als sein Holzstapel schneller schwand, als er sollte, ein Loch in einen Scheit Feuerholz bohrte und mit Schießpulver füllte und mit Kitt verschloss – und als dann einige Tage später das Wohnzimmer seines Nachbarn Mr. Ott explodierte, rief Justins Vater mit einem Grinsen auf dem Gesicht die Feuerwehr und ließ Blumen ins Krankenhaus liefern.
    In dieser Hinsicht ist er wie eine Naturgewalt, er bewegt sich mit unbekümmerter Ausgelassenheit durchs Leben, wischt jeden Widerstand weg, wie ein Sturm ein Dorf wegwischen würde, das leise Brummen seiner Stimme wie der ferne Ruf des Donners, der einen innehalten lässt, was man auch macht.
    Jetzt trocknet er seinen Körper mit einem Handtuch ab und verdreht es zu einer Peitsche, um nach Boo zu schlagen, der aufgeregt bellend ein paar Schritte von ihm wegrennt und dann wieder zurück. Er zieht eine abgetragene Wrangler Bluejeans und ein langärmeliges

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