Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
Unflätigkeiten über seine Lippen gekommen. Doch das provozierte sie inzwischen nicht mehr. Also hatte er die Strategie gewechselt und gefragt: »Sind das deine Tierchen da hinten? Ist so was eigentlich erlaubt?« und dabei gegrinst, wie man dreckiger nicht grinsen konnte. Klara hatte ihn mit einem Griff in die Bauchlage gebracht und ihm ihr Knie mit ihrem ganzen Gewicht darauf in den Nacken gebohrt. Mit beiden Händen hatte sie seinen Kopf umfaßt wie einen Schraubstock und ihn ruckartig nach hinten gedreht, wie man es bei Vögeln machte. Tatsächlich hatte es sich angehört wie ein brechender Hühnerhals. Das Ganze war eine Sache von zwei, drei Sekunden gewesen. Sie bereute die Tat nicht. Nur die Umstände, die sich daraus ergeben hatten. Die Sache würde nicht gut ausgehen, das spürte sie. Es gab inzwischen zu viele Unsicherheitsfaktoren. Erst Nasrin und jetzt auch noch Barbara.
Klara blieb stehen und kramte ihre Stirnlampe aus dem Rucksack, denn inzwischen war es völlig dunkel geworden. Es ging auf Neumond zu, aber vor lauter Wolken hätte man ohnehin nichts vom Mond gesehen. Es fing wieder leicht an zu regnen. Bei diesem Wetter konnte sie den Lichtschein riskieren, kein normaler Mensch trieb sich jetzt im Wald herum, und selbst wenn – die Wölfe waren nirgends mehr zu sehen. Mit der Lampe fühlte sie sich sicherer, schon zweimal war sie über Wurzeln oder Steine gestolpert, beim zweiten Mal war sie sogar lang hingeschlagen. Gott sei Dank war nichts passiert, aber sie mußte besser aufpassen. Einen verknacksten Knöchel konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Nach einer Weile stieß sie auf einen schmalen Weg und folgte ihm. Sie hoffte, bald einen bequemen Platz für die Nacht zu finden, einen überdachten Hochsitz oder sogar eine Kanzel, in der sie vor dem Sturm geschützt wäre. Das Rauschen der Bäume nahm immer mehr zu, dazu kam ein kalter Regen. Die Temperaturen gingen sicherlich schon gegen Null, wenn sie Pech hatte, gab es sogar noch Schnee. Immer wieder suchte der Strahl der Lampe die Umgebung rechts und links des Weges ab, und tatsächlich: Da war eine Leiter an einer mächtigen Fichte, die am Ende einer kleinen Lichtung stand. Sie mündete in eine dem Anschein nach intakte Jagdkanzel mit verschließbaren Schußöffnungen nach drei Seiten. Da drinnen könnte es direkt gemütlich werden, dachte Klara erfreut. Die Leiter schwankte, als Klara die ersten Sprossen nahm. Sie mußte gewaltig aufpassen, denn manche der Sprossen waren morsch, ein Zeichen, daß die Kanzel nicht mehr regelmäßig genutzt wurde. Die schmale Tür war abgeschlossen, aber mit der kleinen Eisensäge an Klaras Multifunktionswerkzeug war das rostige Schloß in fünf Minuten durch. Sie lehnte ihr Gewehr in die Ecke, stellte den Rucksack hin und ließ sich vorsichtig auf die Bank sinken. Sie knackte ein bißchen, aber sie hielt, und es gab sogar ein bröseliges Schaumgummikissen. Wunderbar. Jetzt erst merkte Klara, wie erschöpft sie war. Sie zog die Tür zu und schaltete die Stirnlampe auf Sparfunktion. Jetzt ein heißer Tee, das wäre der Gipfel des Genusses. Aber sie hatte nur eine Wasserflasche und die Müsliriegel, die ihr längst zum Hals heraushingen. Sie aß trotzdem einen, sie mußte bei Kräften bleiben. Langsam wurde ihr wieder wärmer. Fast schon heimelig war es hier oben, wenn es bloß nicht schwanken würde wie in einer Schiffschaukel. Wenn es zu stark stürmt, überlegte Klara, muß ich wieder runter. Dem alten Kasten ist nicht zu trauen, und wer weiß, wie gesund der Baum noch ist. Aber fürs erste legte sie die Beine auf den Rucksack und den Kopf gegen die Wand und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Hannes war auf dem Heimweg naß geworden, außerdem war ihm nach dem Essen ein wenig schlecht. Er trank einen Schnaps, dann ließ er die Badewanne einlaufen. Er kippte eine halbe Flasche Heublumenbad ins Wasser und schaltete die Whirlpoolfunktion ein, damit es ordentlich schäumte. Dann stellte er ein Glas Rotwein an den Wannenrand und daneben das Telefon und das Handy, falls sich Klara melden sollte. Wo sie wohl untergekrochen war, bei diesem Sauwetter? Er durfte gar nicht daran denken. Ihr Handy war ausgeschaltet, wahrscheinlich wollte sie nicht bemuttert werden. Er streckte sich aus und registrierte, wie seine Glieder langsam wieder warm wurden. Für einen wehmütigen Augenblick vermißte er Barbara wirklich. Was für ein lächerlich riesiges Ding, diese Wanne, besonders wenn man allein drin saß. Das Telefon klingelte.
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