Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
hatte. »Nur Trenz kennt sie, und du. Und so sollte es auch bleiben. Sie ist für den Notfall.«
»An Telefonsex hatte ich auch nicht gedacht.«
Klara pfiff leise. Die drei Wölfe kamen in munterem Trab heran.
»Wie schön sie sind«, sagte Hannes traurig. Er hielt Drago seine Hand hin, und der ließ sich kurz den Nacken kraulen.
»Mach’s gut, alter Junge. Gründe eine neue Dynastie.«
Klara gab ihnen zusammen mit dem letzten Leckerbissen, den sie von ihr erhalten sollten, eine Tablette. Hoffentlich wirkt sie nicht zu lange, dachte sie. Ich kann sie schließlich nicht einzeln in den Wald tragen. Dann sprangen die drei in den Laderaum. Klara schloß die Tür und legte ihren Rucksack auf den Beifahrersitz.
»Wozu nimmst du das Gewehr mit?« fragte Hannes.
»Ach, weißt du, ohne Gewehr fühle ich mich irgendwie nackt im Wald.«
»Wie lange wirst du weg sein?«
»Vier, fünf Tage. Vielleicht auch weniger.«
»Vielleicht kannst du mich ja trotzdem mal anrufen. Ohne Notfall«, sagte Hannes.
»Mal sehen«, sagte Klara. Sie mochte Verpflichtungen dieser Art nicht. »Ich komme schon klar. Kümmere dich am Wochenende ein bißchen um Robin«, sagte Klara. »Adieu!«
Sie stieg ein und fuhr rasch vom Hof. Aus ihrer Wohnung drang trauriger Wolfsgesang.
Hinter Hildesheim hielt Klara an einer Tankstelle. Sie öffnete vorsichtig die Hecktür. Die drei lagen zusammengerollt in tiefem Schlaf auf einem Haufen, wie sie es als Welpen oft getan hatten. Sie schloß den Wagen ab und trank einen Automatenkaffee im Tankshop . Seltsamerweise überkam sie an der Kasse die Lust, eine Packung Tabak zu kaufen. Warum eigentlich nicht? Vielleicht würde das den Hunger vertreiben. Es erschien ihr unfair, zu essen, während ihre Schützlinge nichts bekamen. Sie staunte über den saftigen Preis für den Tabak und fuhr weiter. Es war halb zwei. Sie naschte, auf Vorrat sozusagen, eine ganze Tafel Vollmilchschokolade mit Nüssen, während sie die A7 in Richtung Süden fuhr und dann auf die B243 wechselte. Die autobahnähnlich ausgebaute Straße führte am Harz entlang, wurde schließlich schmaler und änderte die Richtung, sie schien ins Herz des Mittelgebirges vorzustoßen. Klara kannte vom Harz nicht viel. Den Brocken, natürlich, und das Torfhaus, in dieser Jugendherberge hatte sie mit zwölf eine Schulfreizeit verbracht und ihren ersten Kuß bekommen. Damals waren noch die Grenzanlagen zur DDR zu besichtigen gewesen, und der Harz war trauriges Lehrbeispiel für das Waldsterben, das damals Topthema für Aufsätze und Referate war. Sie erinnerte sich noch genau an ihre hilflose Wut beim Anblick eines kahlen Bergrückens mit schwarzen Fichtenstümpfen, die wie Marterpfähle in einer Mondlandschaft standen. Ein bizarres Bild, das sich ihr eingeprägt hatte. Vielleicht konnte sie deshalb jahrelang gar nicht genug bekommen von den riesigen, dichten finnischen Wäldern.
Im Wagen war alles ruhig. Sie schliefen. Sankt Andreasberg war der letzte Ort, der Klara bekannt vorkam. Danach verließ sie die breite Straße und war von nun an auf die detaillierte Beschreibung in ihren Unterlagen angewiesen. Die Straßen wurden zu Sträßchen. Während der letzten halben Stunde war ihr kein Auto mehr begegnet. Sie verließ die asphaltierte Straße und folgte einem holprigen, kurvigen Waldweg. Es ging bergauf. Sie stellte den Tageskilometerzähler zurück. Drei Kilometer sollte sie diesem Weg folgen. Der Van geriet zweimal ins Rutschen. Bestimmt war hinter der nächsten Kurve die Welt zu Ende. Der Zähler zeigte 2,9 Kilometer seit Beginn der kritischen Strecke. Links bog ein Weg ab, vielmehr eine Schneise. Das schien die Zufahrt zu jener Jagdhütte zu sein, an der Klara den Wagen lassen sollte. Der Weg stieg an und war aufgeweicht. Sie nahm die Kurve mit Schwung, geriet aber zu weit nach rechts, die Räder drehten durch. Langsam ließ Klara den Wagen zurückrollen. Ihr war heiß. Bloß nicht hier im Dreck steckenbleiben. Hier gab es keinen Arne, der mit dem Trecker anrückte und einen herauszog. Du schaffst das, Klara! Wer einen alten 300er SL in Rekordzeit über den Nienstädter Paß jagen kann, der schafft auch diesen Waldweg mit einem VW-Transporter. Sie versuchte es noch einmal mit etwas weniger Schwung und mehr Gefühl. Langsam arbeitete sich der Wagen nach oben. Klara schaltete kurz das Fernlicht an. Im Licht erschien eine Holzhütte mit einem Hirschgeweih über der Tür, umstanden von dichten, niedrigen Fichten. Waldeslust stand auf einem winzigen
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