Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
gab. Und die gab es zum Glück nicht mehr. Umso wichtiger war, daß alle den Mund hielten. Barbaras unbedachter Ausspruch kam ihm in den Sinn. Sie ist eine Gefahr, solange sie lebt. Wie recht sie damit hatte. Das Mädchen war eine Zeitbombe. Aber auch Robin und Barbara selbst waren Unsicherheitsfaktoren. Robin würde schweigen, weil er sich für schuldig hielt. Obwohl man nicht wußte, ob ihm nicht die Nerven versagten, wenn die Polizei unangenehme Fragen stellte. Bei Barbara waren es Eifersucht und Dummheit, die sie zur Gefahr machten. Er mußte irgendwie dafür sorgen, daß sie den Mund hielt.
VI.
Raphael erwachte, weil er Flüstern und Gekicher hörte. Er sah auf die Uhr. Es war halb sieben. Konnten diese Blagen denn nicht mal morgens Ruhe geben? In der Hütte roch es nach kalter Asche. Das Feuer im Kamin war erloschen, aber es war nicht sehr kalt.
»Seid leise. Ein paar schlafen noch«, ermahnte er die Truppe. Aber es hielt nicht lange an, und eine Viertelstunde später mußte er einsehen, daß es zwecklos war. Er schälte sich aus seinem Schlafsack heraus und sagte gähnend: »Daniel und Ole, ihr geht Holz holen. Kevin und Tom, ihr holt Teewasser an der Quelle. Der Rest räumt die Hütte auf. Und Jonas, du darfst das Feuer anmachen. Jonas? Jonas! He, aufwachen!« Er trat neben den Schlafsack und hob die Wolldecke hoch.
»Oh, Kacke!« Er trat vor das Zelt und rief: »Alle Mann herhören! Weiß einer von euch, wo der Kurze steckt?«
»Hier bin ich«, ertönte eine Piepsstimme. Jonas trat aus dem Wald, er trug seinen Parka und hatte das Fernglas um den Hals hängen.
»Wo warst du?« herrschte ihn Raphael an.
»Spazieren. Ich konnte nicht mehr schlafen, Daniel hat geschnarcht.«
Der Junge sah so müde aus, als wäre er die ganze Nacht unterwegs gewesen. Raphael war wütend, aber auch erleichtert. »Geh in die Hütte, und rühr dich nicht vom Fleck, bis du was anderes gesagt bekommst.«
Die Anweisung kam Jonas sehr entgegen. Er kroch sofort auf seinen Platz, denn er mußte Schlaf nachholen und neue Kräfte tanken, für die kommende Nacht.
Eine müde Frauenstimme meldete sich mit »Donath«. Hannes nannte seinen Namen, entschuldigte sich für die Störung am Samstagmorgen und fragte dann nach dem Ehemann.
»Sie wissen es wohl noch gar nicht«, stellte die Stimme schleppend fest. »Er hatte einen Schlaganfall.«
Hannes wurde flau. »Schlaganfall«, wiederholte er.
»Ja, vor Ostern schon.«
»Und jetzt, ich meine …« War er etwa tot?
»Es geht ihm besser. Sie haben ihn gestern in die Reha-Klinik überwiesen. Worum geht es denn, kann ich ihm was ausrichten?«
»Nein, es ist nicht so wichtig. Es ist überhaupt nicht wichtig. Bestellen Sie ihm bitte die besten Genesungswünsche von mir. Und entschuldigen Sie noch einmal die Störung.«
Hannes legte auf. Der Staatsanwalt war gerade mal zwei oder drei Jahre älter als er. Er rauchte nicht, war nicht dick, und so weit Hannes informiert war, konsumierte er weder legale noch illegale Drogen im Übermaß. Nun wußte er wenigstens, warum Donath sich wegen des Fotos von Nasrin nicht gemeldet hatte. Der hatte andere Sorgen.
Vielleicht, dachte Hannes, war die Nachricht vom Schlaganfall des Kollegen ein Zeichen von oben, nicht mit seinem Leben zu pokern, als hätte er noch ein Ersatzleben im Schrank hängen, wie einen zweiten Anzug.
Himmelszeichen, was für ein Unsinn! Aber nachdenklich machte es schon. Über Karriere, Ruhm, Einschaltquoten. Durch Zufall war er ins Blickfeld der Medienaufmerksamkeit geraten, aber was hatte man davon noch, wenn man sabbernd in einem Rollstuhl saß?
Bei dieser unangenehmen Vorstellung verspürte Hannes plötzlich den Drang, nach draußen zu laufen und sich zu bewegen. Er kramte seine Joggingsachen hervor und rannte hinaus. Merlin saß vor dem Tor und sah sehnsüchtig die Auffahrt entlang. Hannes trommelte den verschlafenen Robin aus dem Bett.
»Spinnst du, es ist acht Uhr morgens!«
»Los, wir gehen jetzt laufen.« In seinem Ton schwangen gleichermaßen Autorität und Begeisterung mit.
»Aber es regnet.«
»Das Leben ist kurz.«
Robin wußte, daß Widerstand zwecklos war. Es dauerte ein paar Minuten, bis er soweit war. Dann riefen sie Merlin. »Du kannst auch ein bißchen rennen, nicht nur auf dem Sofa liegen und Chips essen«, sagte Hannes zu ihm und nahm ihn an die Leine. Merlin ließ sich brav mitführen.
Anfangs waren sie sehr schnell, aber dann bekam Hannes Seitenstiche, und sie drosselten das Tempo. Die Wege
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