Wofuer die Worte fehlen
zumindest auf den Tisch gelegt, jetzt ist es an der Mutter zu reagieren, es ist nun ihre Aufgabe, Kristians Schweigen zu brechen.
Wie wird sie reagieren?
Das fragt sich auch Kristian. Wie erstarrt sitzt er auf dem Küchentisch. Das sorgfältig gehütete Geheimnis, von dessen Bewahrung der Erhalt der Familie abhängt, schwebt offen und ungeschützt im Wohnzimmer.
Sie muss doch jetzt aufspringen, Herrn Malert aus dem Haus werfen. Ihre Empörung muss zeigen, dass es so etwas in der Familie nicht gibt, dass Herr Malert sich schämen soll, die Familienehre so in den Dreck zu ziehen.
Es gibt viele Beispiele, wo jemand zu Unrecht beschuldigt wurde. Böse Fantasien! Das ganze Leben eines Menschen kann zerstört werden, wenn solche falschen Gerüchte in die Welt gesetzt werden. »Schämen Sie sich, Herr Malert!«, müsste sie jetzt empört rufen. »Wie können Sie es wagen! Dochnicht mein Mann, Kristians Vater! Was fällt Ihnen ein! Hinaus mit Ihnen!«
Aber die Mutter schweigt, die Giftwolke hat ihr die Sprache verschlagen. Ganz bleich ist sie, ihre Augen werden groà und dunkel. Schwarz wie die Nacht. Kristian liest in ihnen ein Erschrecken, eine furchtbare Ahnung und dann die Gewissheit, die ihr die Luft abschnürt.
Sie fährt mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. »Nicht mein Mann! Das ⦠das ⦠kann nicht ⦠Aber wer sonst?« Ihre Stimme ist heiser.
»Dazu ⦠hmmm ⦠kann ich Ihnen nichts sagen.« Auch Herr Malert muss sich erst räuspern, bevor seine Stimme wieder klar und fest ist. »Denken Sie einfach darüber nach und vor allem, reden Sie mit Kristian. Vielleicht sagt er Ihnen ja etwas. Solange er schweigt, kann man nichts beweisen. Dann bleibt alles beim Alten und Ihr Junge geht kaputt.«
»Dann bleibt alles beim Alten«, hört er die Mutter leise murmeln.
Kristian schleicht in sein Zimmer, schlieÃt die Tür ganz fest zu, wirft sich auf sein Bett und starrt an die Decke. Er hört, wie Herr Malert sich verabschiedet, liegt da und wartet. Ahnt die Mutter, was in ihrer Abwesenheit passiert?
Was soll er sagen, wenn sie ihn fragt?
Die Wahrheit darf er nicht sagen. Dann wird sie für immer zurückgehen in die Slowakei und nie mehr zurückkommen. Die Familie wird zerbrechen, wenn er nicht schweigen kann. »Und sie werden mit dem Finger auf uns zeigen. Die Ehre einer Familie ist etwas GroÃes, etwas Heiliges. Dafür muss man Opfer bringen.« Das hat der Vater ihm vor seinem ersten Therapiegespräch in der Schule gesagt. Und seit Jahren hört er wie ein Gebet seine Worte: »Ein Mann muss schweigen können. Das unterscheidet uns von den Frauen.«
In seinem Bauch die vertrauten, verhassten Schmerzen. Alleshängt von ihm ab, seit Jahren schon. »Du bist wichtig«, hat der Vater gesagt. »Du hältst die Familie zusammen.«
Kristians Kopf weià das. Nur sein Bauch will es nicht verstehen. Er rebelliert inzwischen täglich, spielt schon verrückt, nur wenn bestimmte Worte fallen.
Was würde die Familie sagen, wenn sie die Wahrheit erführe? Onkel Vladimir, Tante Irina und Eva? Für sie ist Kristian schon jetzt »versaut«. Eva würde es am nächsten Tag in der Klasse und auf dem Schulhof herumerzählen. Er müsste wie Nancy die Schule wechseln, weil er die Verachtung der anderen nicht ertragen könnte.
Und Katarina? Würde er Patenonkel von Tobias bleiben dürfen? Oder würde Eva nachträglich zur Patentante aufsteigen? Und irgendwann würde sie es dem kleinen Tobias erzählen.
Am schlimmsten aber ist die Angst, dass die Mutter ihm nicht verzeihen könnte, wenn sie es wüsste. SchlieÃlich ist er damals freiwillig ins Bett des Vaters gekrochen. Das betont der Vater immer wieder. Es war seine, Kristians, Schuld, weil er sich so einsam gefühlt hat. Ganz alleine seine Schuld.
»Deine Mutter wird dich hassen, wenn sie es erfährt«, hat der Vater gesagt und versprochen zu schweigen. »Aber da es nichts auf der Welt umsonst gibt, hat mein Schweigen seinen Preis. Wir verstehen uns?«
Kristian hat genickt, während in seinem Bauch die Schmerzen einen wütenden Tanz vollführten.
»Solange Kristian schweigt, kann man nichts beweisen«, hat der Lehrer gesagt. »Dann bleibt alles beim Alten â¦Â«
Will Kristian das?
Aber kann er was anderes wollen?
Er wartet, dass die Mutter zu ihm kommt. Er hofft, dass sie kommt.
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