Wofuer es sich zu sterben lohnt
weiterspreche, möchte ich fragen, ob Sie wissen, ob Mariam noch lebt. Ich habe jeden Tag an sie gedacht, seit sie und Theo verschwunden sind. Ich habe gehofft, dass ihr nichts passiert ist. Jetzt haben Sie Theo gefunden, aber was ist mit ihr?«
Monika konnte Tigists Gedanken fast sehen - es ist Sa che der Polizei, Fragen zu stellen. Wird er ein besserer oder schlechterer Zeuge, wenn er erfährt, dass sie noch lebt? Könn te das für irgendjemanden irgendeine Gefahr bedeuten?
Langsam senkte sich die Waagschale, und sie sagte:
»Mariam lebt, und es geht ihr gut. Sie ist außer Landes.«
Die Augen des Professors liefen plötzlich über, und er zog ein großes, tadellos gebügeltes Stofftaschentuch hervor. Er wischte sich die Tränen ab, bat um Entschuldigung und sagte, Mariam sei für ihn wie eine Tochter gewesen, habe ihm so nahe gestanden. Er sei ja so froh.
Als er sich gefasst hatte, wandte er sich an Monika.
»Wenn ich berichten soll, was passiert ist, dann muss ich damit anfangen, dass unser Staat zu den ärmsten auf der Welt gehört. Entsprechend sind unsere Einkommen. Jedes kleine zusätzliche Einkommen ist deshalb sehr, sehr will kommen.«
Er fuhr fort, jetzt an sie beide gerichtet:
»Als Mariam aus Genf zurückkehrte, hatte sie ein gutes Angebot bekommen. Sie sollte nebenbei für eine Firma ar beiten, ein Konsortium, das ihr Röntgenbilder zur Beurtei lung zusandte. Sie empfahl dann dieser Firma meine Frau, die ebenfalls sehr tüchtig ist. Meine Frau bekam als Test einen Stapel Bilder zur Beurteilung, dann wurde auch sie eingestellt. Das Geld, das meine Frau auf diese Weise ver diente, hat uns ein neues Auto und eine bessere Schule für unsere drei Kinder ermöglicht. Die Idee dahinter ist ein fach: Die Ärzte aus reichen Ländern kaufen unsere Zeit, wir verkaufen unsere Kompetenz.«
»Und was bekommt die Firma? Reden wir jetzt von die sen Ägyptern?«
»Die Firma, die ihren Sitz in Alexandria hat, bekommt für jede Beurteilung eine Provision.«
Tigist und Monika nickten. Bisher stimmte alles mit dem überein, was sie bereits gehört hatten.
»Es kam uns so einfach und so sinnvoll vor, international zu arbeiten. Danach, als wir von den Morden hörten, wur de es plötzlich ausgesprochen unangenehm. Der ermorde te Kollege aus Kolumbien soll gesagt haben, die ägyptische Firma behalte an die achtzig Prozent der Honorare, die die Amerikaner für seine Beurteilungen bezahlten. Er wollte besser entlohnt werden und schlug in einem allgemeinen Rundschreiben an Kollegen in Südamerika eine Boykott aktion vor - er wusste ja nicht, wer sonst für diese Firma arbeitet. Einige Wochen darauf war er tot. Ähnlich war es in Pakistan. Da hatten wir einen Kollegen, der einen Leser brief an eine Fachzeitschrift geschrieben hatte. Er starb eini ge Wochen darauf unter haargenau den gleichen Umstän den. Das war das, was Theo offenbar gehört hat. Mariam musste diese brenzlige Situation, in die sie da geraten war, mit Salomon diskutieren …«
»Hatte sie große Angst?«
»Es ist offensichtlich, dass Sie sie nicht kennen. Sie ist niemand, der sich schnell fürchtet. Sie war wütend. Sie machte sich Sorgen um ihr Röntgenzentrum, aber Angst gab es bei ihr einfach nicht.«
Tigists Hände schienen etwas einfangen zu wollen, das vor ihr in der Luft hing - eine Idee vielleicht oder die Wahr heit.
»Uns war klar, dass Salomon von ihren Nebeneinnahmen wusste und dass er zutiefst schockiert war. Offenbar wollte er eine Sendung darüber machen, was er die neue Ausbeu tung Afrikas nannte. Theo hatte jedenfalls registriert, dass Mariam in Panik geraten war, was bei ihr nur ganz selten vorkam. Wenn das, was Sie sagen, stimmt, dann hätte eine solche Reportage lebensgefährlich für sie sein können. Aber einige Tage später wurde dann ja Salomon erschossen.«
»Wissen Sie denn nicht, dass er gelogen hat?«, fragte der Professor leise.
»Gelogen? Inwiefern?«
»Dass er diese Informationen zufällig bei Mariam ent deckt hatte. Er beschäftigte sich schon seit Monaten damit, die Aktivitäten dieser Firma zu untersuchen. Er war ein un gewöhnlich rücksichtsloser Mensch. Ich weiß nicht, warum Frauen solche Männer nie durchschauen. Salomon brauch te Einblick in den Computer einer Röntgenärztin. Er ent schied sich für Mariams. Ich weiß wirklich nicht, wer ihn erschossen hat, aber ich finde, diese Person hat uns allen einen Gefallen getan.«
»Aber woher konnte er wissen, dass sie für diese Ägyp ter arbeitete?«
»Das
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