Wofuer wir kaempfen
Patient über Wochen im künstlichen Koma gehalten werden, allerdings
steigt mit jedem Tag das Risiko, dass der Patient die Therapie nicht überlebt.
Tinos Fuß sollte durch die tiefe Betäubung ruhiggehalten werden, jede Bewegung hätte in dem zersplitterten und verwüsteten Bein weitere Schädigungen verursacht – vor allem machte den Ärzten die mangelnde Durchblutung des Fußes und eine sich ausbreitende Infektion Sorgen. Bei Stefan war durch die Nähe zur Explosion die Lunge schwer geschädigt und er musste künstlich beatmet werden, um die geplatzten Lungenbläschen abheilen zu lassen. Das alles würde Zeit brauchen, Tage, bei Stefan vielleicht Wochen. Die Ärzte waren zu diesem Zeitpunkt zu keiner Prognose bereit. Ihr vordringliches Ziel war, dass die beiden die nächsten 48 Stunden überstanden.
Das Unvermeidliche wird wahr
Den Vormittag verbrachten Vio und ich damit zu warten, bis wir unsere Männer wieder besuchen konnten. Am späten Vormittag kam der Anruf, dass wir ins Krankenhaus kommen sollten. Wir trafen auf einen besorgten Chefarzt, der mich gleich zur Seite nahm. »Es tut mir leid, Sie werden Ihren Tino heute nicht mehr sehen können. Wir bereiten ihn gerade für die OP vor. Wir können sein Bein nicht retten … Wir müssen amputieren … Wir haben alles versucht, aber die Wunde ist infiziert und sein Fuß stirbt langsam ab. Wenn wir jetzt nicht amputieren, droht das tote Gewebe seinen ganzen Körper zu vergiften, und das wird Tino nicht überleben.« Der Chefarzt versuchte uns zu beruhigen, dass man so wenig wie möglich und nur so viel wie nötig vom Bein amputieren würde.
Ich war einigermaßen gefasst, denn nach unserem Besuch in der Nacht und nach allem, was Tinos Schwester Heike aus den Krankenakten entnommen hatte, war eigentlich klar gewesen: Sie werden das Bein abnehmen müssen. Tinos Fuß war
ja schon ganz schwarz gewesen. Wir hatten das alles in der Nacht gemeinsam durchgesprochen. Unsere Grundstimmung war: Lieber Amputation und ein Ende mit Schrecken, als wenn Tino zwar die Explosion in Afghanistan überlebt hätte, aber hier in Deutschland wegen einer Blutvergiftung sterben würde. Am frühen Abend gingen wir dann noch einmal ins Krankenhaus, um Tino zu sehen. Mein zweiter Besuch, und noch immer schien alles unwirklich zu sein. Aber da lag er. Und sein Unterschenkel war weg. Das war ein Schock. Da fehlte einfach was. Deutlich sah man das linke Bein unter der Bettdecke – und daneben das rechte, wie es unterhalb des Knies abrupt endet.
Selbst wenn man auf so eine Amputation vorbereitet ist, selbst wenn man weiß, es geht nicht anders – gefühlsmäßig kann ich diesen Moment nur mit einer tiefen Erschütterung beschreiben. Erinnerungen kamen an unsere langen Wanderungen zum Eibsee und in die Murnauer Berge, die Skiurlaube – alles zog an mir vorbei. Tino am Strand von Rügen, braungebrannt und kraftstrotzend, sein austrainierter Körper, seine langen Beine. Wie er sich ins Meer wirft und davonkrault. Leichte, unbeschwerte Sommertage. Und dann fehlt da was. Es schnürt einem die Luft ab.
Meine eigenen Ängste vor der Zukunft spielten in diesem Moment gar keine Rolle, die kamen erst später. Mein Hauptproblem war: Wie würde Tino das verkraften? Damit würde er nicht klarkommen. Weil genau das eingetroffen war, wovor er damals am Strand von Rügen so große Angst hatte: Amputation. Der Verlust eines Beins. Invalidität. Sich nie wieder frei bewegen zu können. Kein Sport mehr. Ich setzte mich dicht zu ihm aufs Bett und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir schaffen das. Wir schaffen das zusammen.«
Tinos nun amputierter Unterschenkel hatte ihn 31 Jahre auf allen Wegen begleitet – er wurde nicht beerdigt, sondern als
Sondermüll entsorgt, der mit den übrigen OP-Abfällen, Mullbinden, Kompressen und Tüchern der großen Koblenzer Klinik irgendwo in einer spezialisierten Müllverbrennungsanlage verbrannt wurde.
Als ich Tino am Abend besuchte, waren die Schwestern dabei, seine Verbände am amputierten Bein zu wechseln. Der Anblick der weißen Mullbinden erinnerte mich sofort an die Sanitätsübung in Rothenburg an der Fulda, als ich Tino genau das Bein verbunden hatte, das jetzt weg war. Ich sah Tino vor mir, wie er mich damals mit seinem fragenden Lächeln angeschaut hatte.
Es war ein unglaublicher Schnitt ins Herz in dieser Sekunde. Ich glaube nicht an Übersinnliches, aber es kam mir schon seltsam vor. Meine Mutter hat mal gesagt, es sei, als ob sich zwei Menschen bei dieser
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