Woge der Begierde
gewesen? Er dachte zurück, ging die Ereignisse nochmals durch, das dunkler werdende
Kerzenlicht, die eisige Kälte, das Gefühl, mit etwas Bösem konfrontiert zu werden, dieser verflixte wabernde Umriss vor dem Kamin. Er seufzte. Wenn er keinen Geist gesehen hatte, dann das, was dem am nächsten kam.
Er schaute Daphne an, suchte ihren Blick. »Ja, ich denke, ich habe heute Nacht ein Gespenst gesehen, zumindest habe ich die Gegenwart des Bösen gespürt.«
Daphne sank zurück ins Sofa. »Ich hatte schon Angst, ich wäre verrückt geworden«, sagte sie leise. Ihre Augen suchten seine, und sie fragte: »Und die Kälte? Haben Sie die auch wahrgenommen?«
Charles nickte. »Die Kerzen brannten weniger hell. Das ist mir auch aufgefallen.«
Er sah zu Mrs. Darby. »Sie sagten, Sie hätten nicht direkt damit gerechnet, aber dass Sie darauf vorbereitet waren. Was haben Sie damit gemeint?«
»Ich habe nicht geplant, was geschehen ist«, stellte Mrs. Darby ernst fest. »Das müssen Sie mir glauben. Ich hatte auch keine besondere Geschichte im Sinn, als ich heute Nachmittag herkam, und ich wusste es auch nicht, bis mir klar wurde, dass wir in Sir Wesleys altem Arbeitszimmer sein würden. Sobald wir alle im Zimmer saßen, schien es mir angebracht, dass ich Ihnen seine Geschichte erzählte.« Sie schaute zum Feuer. »Ich kann noch nicht einmal sagen, dass ich drohende Gefahr gespürt habe - ich habe nicht das Zweite Gesicht wie meine Großmutter und meine Urgroßmutter, aber ihre Scheu vor dem Zimmer hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.« Zögernd räumte sie ein: »Aber vielleicht hatte ich doch eine unbestimmte Ahnung, weil ich, als ich mit Goodson und den anderen zu Abend gegessen habe, ihn gebeten habe, mir den Talisman zu leihen, den er von unserem Urgroßvater geerbt
hat, der ihn stets bei sich trug.« Sie lächelte schwach. »Er hat behauptet, dass er ihn vor den Geistern geschützt habe. Goodson war wütend. Nicht nur weil ich den Talisman haben wollte, sondern auch weil ich Sir Wesleys Geschichte erzählen wollte.« Sie seufzte. »Mein Bruder verabscheut alles, was ein schlechtes Licht auf die Familie wirft. Er würde am liebsten vergessen, dass einige der Menschen, die in diesem Haus gelebt haben, Schreckliches getan haben.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wenn ich Ihnen nur von den guten Beaumonts berichten wollte, hätte er keinerlei Einwände. Er würde sogar selbst Geschichten beisteuern.«
»Aber er hat Ihnen den Talisman geliehen?«, fragte Charles nach.
»Oh ja«, erwiderte Mrs. Darby freudig. »Eigentlich wollte er nicht, aber Mrs. Hutton hat ihn davon überzeugt, dass es nicht schaden würde. Wenn zufällig doch ein Gespenst des Wegs käme, dann wäre es doch besser, ich hätte Schutz dabei, oder?«
»Und es war der Talisman, den sie dem … Geist entgegengehalten haben?«, erkundigte sich Daphne.
»Es ist eigentlich kein echter Talisman«, sagte Mrs. Darby. »Es ist ein goldenes Kruzifix.«
»Dürfte ich es mal sehen?«, bat Charles.
Mrs. Darby holte das Kruzifix hervor und reichte es ihm.
Er hielt es in der Hand und betrachtete das kostbar gearbeitete Kreuz, fand, dass es fast zu klein war, um solche Macht ausgestrahlt zu haben.
»Kennen Sie seine Geschichte?«
Mrs. Darby nickte. »Wie Sie wissen, stand die Familie Goodson seit jeher in den Diensten der Beaumonts. Einem unserer Vorfahren wurde das Kreuz von dem Beaumont
vermacht, dem er gedient hat.« Sie schluckte und starrte auf das schwach glitzernde Goldkreuz in Charles’ Hand. »Es heißt, es sei vom Papst persönlich gesegnet.«
Daphne schlug sich eine Hand vor den Hals. »War es … gehörte es …?«
»Bis er es auf seinem Sterbebett meinem Verwandten gab«, erklärte Mrs. Darby leise, »gehörte es Sir Wesley.«
10
D aphne war eigentlich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie keine Sekunde Schlaf finden würde in dieser Nacht, aber zu ihrer Überraschung schlief sie, sobald ihr Kopf das Kissen berührte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, erwartete sie ein grauer, trüber Tag. Das Schlimmste von dem Unwetter war in der Nacht noch weitergezogen, aber der Himmel war trotzdem noch bleiern, es regnete stetig, und der eine oder andere Windstoß fuhr ums Haus, eine schwache Erinnerung an die kräftigen Böen der vergangenen Nacht.
Als sie badete und sich anschickte, sich für den Tag fertig zu machen, überdachte Daphne die Ereignisse der vergangenen Nacht. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen - und es
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