Woge der Begierde
Der entscheidende Punkt für Sie jedoch ist, dass Sir Wesley ohne Nachkommen gestorben ist.« Er wirkte ernst. »Es war eine hässliche Zeit, in der hässliche Sachen geschehen sind. Ich muss sagen, meinen Nachforschungen nach ist es ein glücklicher Umstand, dass es Sir Wesley nicht möglich war, Johns Gattin und ihr Kind in seine Hände zu bekommen. Mich schaudert, wenn ich daran denke, was aus ihnen geworden wäre. Aber in dem Moment, da Anne-Maries Eltern von Johns Verhaftung hörten, kamen sie sogleich
her und haben ihre Tochter in die Sicherheit ihres Hauses in Suffolk gebracht, außerhalb von Sir Wesleys Zugriff. Und in dem Haus ihrer Eltern wurde dann auch Johns Sohn Jonathan geboren. Erst nach Sir Wesleys Tod ist Johns Witwe mit ihrem Sohn nach Beaumont Place zurückgekehrt und hat ihre rechtmäßige Stellung eingenommen.« Er tätschelte ihr die Schulter und lächelte. »Sie stammen von Sir Jonathan ab, und nach allem, was ich über ihn gelesen habe, war er ein Vorfahre, auf den man stolz sein kann. Verbannen Sie alle Gedanken an Sir Wesley aus Ihrem Kopf.«
Daphne hätte gerne weiter gefragt, aber die Frau des Squires trat in genau dem Moment zu ihnen, sodass die Gelegenheit vorüber war. Die Erklärung des Vikars erleichterte sie, und sie war völlig damit zufrieden, nicht weiter über Sir Wesley nachzugrübeln … vorausgesetzt, er kam nicht auf die Idee, sich nach Belieben aus dem Kamin zu materialisieren.
Von dem Augenblick an ergab sich keine Möglichkeit mehr, weitere Nachforschungen zu Sir Wesleys Schandtaten anzustellen, und das passte Daphne sehr gut. Sie hatte einfach zu viel zu tun, um über einen längst verstorbenen entfernten Verwandten zu brüten - und dem Himmel sei Dank dafür. Irgendjemand, so schien es ihr, wollte dauernd irgendeine Entscheidung von ihr oder einen Rat, und es gab reihenweise gesellschaftliche Veranstaltungen. Die anstehende Hochzeit war das wichtigste Ereignis der Gegend seit Jahren, und die Umstände der Verlobung verliehen ihr etwas Geheimnisvolles, sodass sich die Damen der Nachbarschaft zu übertrumpfen suchten mit Einladungen, zu denen das junge Verlobungspaar erscheinen sollte. Es gab Frühstücke, Dinner- und Abendgesellschaften, eine erfindungsreiche Dame verfiel sogar auf einen Ausritt nach
Land’s End zu einem Essen al fresco , das auf den Klippen über der Brandung serviert wurde.
Charles war anderweitig beschäftigt, und außer bei ein paar kürzeren Besuchen in Beaumont Place begegneten er und Daphne sich nur auf den verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen, an denen sie teilnahmen. Manchmal begleitete er sie zu den Einladungen, und manchmal, so wie an diesem Tag, trafen sie getrennt ein, wenn sie mit Adrian und April fuhr, während Charles von Lanyon Hall herüberritt. Die Gesellschaft an diesem Abend war klein und wenig förmlich, von der Gattin des Squire organisiert, die vierte Veranstaltung der Woche, und als er ihr beim Einsteigen in Adrians Kutsche half, bemerkte Charles halblaut: »Mir war vorher gar nicht klar, wie erschöpfend eine Verlobung sein kann.« Er lächelte sie an. »Freust du dich schon darauf, wenn wir das alles hinter uns haben?«
Sie erwiderte sein Lächeln, wunderte sich, wie rasch er unverzichtbarer Bestandteil ihres Lebens geworden war. »Gewiss. Man hat den Eindruck, dass es hier auf dem Lande viel lebhafter zugeht, als wir es aus London kennen.«
Es zuckte um seine Lippen. »Es ist erstaunlich, wie der Hauch eines Skandals die eigene Beliebtheit steigern kann, nicht wahr?«
Ihr Lächeln verblasste. »Stört es dich sehr?«, fragte sie.
»Stören?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn es das täte, meine Liebe, wäre ich nicht hier. Ich tue niemals etwas, das ich nicht tun will.«
Ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken, als sie begriff, dass das sein vollster Ernst war. Sie hatte bislang nur seine charmante Seite gesehen, aber dann und wann erhaschte sie einen Blick auf die stählerne Härte, die sich unter dem Samt verbarg, das Eis unter der Verbindlichkeit, und verspürte
Unbehagen. Er war nicht länger ein völlig Fremder für sie, aber sie konnte auch nicht so tun, als ob sie ihn in- und auswendig kannte, als ob sie nicht doch manchmal Angst verspürte.
Adrian und April, die etwas zurückgeblieben waren, um mit einigen der jüngeren Gäste zu plaudern, kamen zu ihnen, sodass unter den lebhaften Verabschiedungen keine Möglichkeit mehr bestand, ein paar ungestörte Worte miteinander zu wechseln. Da sie mit Adrian
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