Wogen der Leidenschaft - Roman
eigentlich erleichtert gewesen war, als Kelly vor sechzehn Jahren seinen Vorschlag abgelehnt hatte, mit ihm nach New York zu gehen.
» Könnte Kelly den Brief geschickt haben?«
Der Junge überlegte, dann schüttelte er den Kopf.
» Nicht sehr wahrscheinlich. Meine Mutter hat seit über zehn Jahren nichts mehr von sich hören lassen. Und Sie haben gesagt, der Poststempel wäre aus Medicine Gore gewesen.« Er sah zu der Fensterreihe über der Spüle, als wolle er alle dort aufgereihten Geschenke in Augenschein nehmen. Ben sah, dass eine Andeutung von Schmerz über sein Gesicht huschte, ehe er sich wieder ihm zuwandte.
» Nem muss ihn geschrieben haben.«
» Aber warum? Sie liebt dich. Sie würde nicht riskieren wollen, dass du mit mir gehst.«
» Weil sie mich wirklich liebt. Weil diese Abholzkampagne ihr große Angst einjagt. Sie würde alles tun, um mich in Sicherheit zu wissen.«
Ben senkte den Blick.
» Ich weiß von Emmas Vater.« Dann sah er wieder seinen Sohn an.
» Dein Großvater ist kurz vor deiner Geburt ums Leben gekommen.«
Michael starrte direkt in Bens Augen.
» Jemand hat den Damm in die Luft gejagt, den die Papierindustrie baute. Grampy Sands wurde von der Flut erwischt.«
Ben nickte.
» Es ist an dem Tag geschehen, als ich fortgegangen bin.«
» Ja. An dem Tag, als Sie verschwunden sind.«
Während er in seine eigenen, jüngeren Augen starrte, wurde Ben plötzlich klar, was Mike andeutete.
» Du glaubst, ich hätte mit dieser verdammten Explosion etwas zu tun?« Er schloss die Augen und strich sich über das Gesicht.
» O Gott. Du und Emma und Kelly… ihr alle glaubt, Charlie Sands’ Tod ginge auf mein Konto?«
» Das glaubt die ganze Stadt.«
» Guter Gott.«
» An Ihrer Stelle würde ich den Bart behalten und nicht weiter aufzufallen versuchen.«
» Ich habe es nicht getan. Ich habe den verdammten Damm nicht gesprengt!«
» Also die Holzarbeiter waren es ganz sicher nicht.«
» Auch die Umweltschützer nicht. Das wäre kontraproduktiv gewesen. Die Flut hätte das Land überschwemmt, das sie zu retten versucht haben.«
Ben stand auf und ging zur Theke. Die Hände auf die Spüle gestützt blickte er aus dem Fenster. Draußen war außer Dunkelheit nichts zu sehen. Er sah nur das Spiegelbild der Küche vor sich, Michael, der mit dem Rücken zu ihm saß, die Arme auf der Tischplatte. Ohne sich umzudrehen, sagte Ben:
» Mike, ich schwöre dir, dass ich den Damm nicht gesprengt habe. Und es wäre mir nicht verborgen geblieben, wenn etwas in dieser Art geplant worden wäre.«
» Mich müssen Sie nicht überzeugen, sondern die Leute aus der Gegend. Sechzehn Jahren sind eine lange Zeit, in der ein Verdacht sich richtig festsetzen kann.«
Ben drehte sich um und sah seinen Sohn an, der nun seinen Blick auf ihn richtete.
» Charlie Sands war dein Großvater. Deshalb musst du mehr als alle anderen überzeugt werden.«
» Ich bin es schon.«
» Einfach so? Du weißt ja nichts von mir.«
Michael stand auf und näherte sich Ben selbstsicheren Schrittes. Dicht vor ihm blieb er stehen.
» Ich weiß alles über Benjamin Sinclair«, sagte er leise.
» Ich kann Ihnen sagen, wie Ihr Großvater Abram aus dem Nichts sein Schifffahrtsunternehmen aufgebaut hat. Und ich kann Ihnen sagen, was Sie persönlich netto wert sind. Aber vor allem kann ich Ihnen sagen, dass mein Vater vor sechzehn Jahren nie davongegangen wäre, wenn er den Tod eines Menschen verschuldet hätte.«
Ben konnte ihn nur anstarren, reglos vor heiliger Scheu.
Blinder Glaube. Kindliche Loyalität. Und das Vertrauen eines jungen Mannes in das, was er aus Tatsachen, Zahlen und Geschichte folgern konnte.
Und vielleicht mit ein wenig Nachhilfe von Emma Sands? Trotz ihres Hasses hatte sie es fünfzehn Jahre lang zuwege gebracht, den Vater ihres Neffen nicht in Grund und Boden zu verdammen. Sie hatte seine Identität nicht verraten, als er angekommen war, und sie hatte sich die ganze letzte Woche nicht eingemischt. Sie hatte einfach zugelassen, dass sie ihren eigenen Weg bis zu diesem Moment gehen konnten– und war dann im Wald verschwunden, um ihnen diesen Augenblick zu ermöglichen.
» Michael… was wünschst du dir?«
» Einen Vater.«
Er drohte in einem Sumpf der Emotionen unterzugehen. Ben zwang sich zu aufrechter Haltung, trotzdem setzte ein Beben ein, das tief innen anfing und immer weiter nach außen drang.
Dieser Junge erschreckte ihn zu Tode. Er war zur Vaterschaft nicht bereit, verdammt, bis zu diesem
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