Wogen der Liebe
ging. Der Weg war steinig, uneben, teilweise tückisch glatt, bis sie die Weiden erreichte, auf denen Rinder grasten. Sie bemerkte zwei Hüteknechte, die keine Notiz von ihr nahmen. Hinter den Weiden begann ein ausgedehnter Landstrich voller Hügel, Senken, sumpfiger Stellen und lichtem Wald. Auf dieser Seite des Fjords wuchsen vor allem Birken, Erlen und Eschen, auch knorrige Eichen und Buchen. Dazwischen zwängten sich wenige dunkle Tannen.
Es beruhigte Viviane insofern, als sie vor allem der dunkle Nadelwald ängstigte und sie ihn wahrscheinlich nie allein betreten hätte. Eine innere Unrast trieb sie vorwärts. Es war nicht nur Thoralfs Befehl, diesen Stoff zu weben, dem sie nachkommen musste. Nein, ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihm diesen Wunsch unbedingt erfüllen wollte. Er sollte etwas von ihr tragen, ein Stück von ihr, in dem ihre Kraft, ihre Geschicklichkeit und ihre Wünsche und Sehnsüchte verarbeitet waren. Sie blieb plötzlich stehen. Welche Wünsche und Sehnsüchte hatte sie denn?
Ein dicker Kloß entstand in ihrem Hals und erschwerte ihr das Atmen. Oleif hatte von seltsamen Dingen gesprochen, von Liebe, Ehe, Mutterschaft. Darüber hatte sie nie nachgedacht, zumindest nicht mehr, seit sie von ihrer Insel verschleppt worden war. Sie dachte an Patrick, der ihr versprochen war. Doch sie konnte sich nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern. Sah er aus wie Oleif? Beide Gestalten verschmolzen zu einer. Da war die Schmiede, da war das Feuer, der Geruch nach Kohle und heißem Metall. War hier doch ihre neue Heimat, neben der Schmiede, bei Oleif?
Ein anderes Bild schob sich davor, das Bild eines stolzen Fürstensohnes mit blondem Haar und einem bunten Umhang. Dieses Bild wurde getrübt durch das Blitzen eines breiten Schwertes und das Rot von Blut. Im gleichen Augenblick verschwand das wohlige Kribbeln in ihrem Bauch, das sie bei dem Gedanken an Thoralf befallen hatte. Sie war verwirrt, sie sollte ihre Sinne zusammennehmen, um den Weg nicht zu verfehlen.
Doch wieder schweiften ihre Gedanken ab, während sie zielstrebig einen Fuß vor den anderen setzte. Wie sollte sie sich die Göttin Frigg vorstellen? Wie Mutter Maria? Gütig, mit dem Jesuskind auf dem Schoß, wie es ihr die Brüder aus dem Kloster erzählt hatten? Vielleicht war es sogar Mutter Maria, nur eben mit einem anderen Namen? Nein, Frigg war mit Odin verheiratet und Maria mit Josef. Frigg musste ein anderes Wesen sein. Das Unbehagen stieg in ihr auf wie düsterer Nebel. Sie wollte sich nicht fürchten. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern. Zügig schritt sie vorwärts, wollte diese Opferung so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Es war nicht schwer, den See zu finden. Er lag versteckt im Wald, gesäumt von Erlen, Weiden und Farnen. Einige Enten flogen erschrocken und mit lautem Schnattern auf, empört über die Störung. Viviane blieb stehen und betrachtete den stillen Weiher. Das Wasser lag glatt und silbern vor ihr. Sie überlegte, was nun zu tun sei.
Vorsichtig stellte sie den Bierkrug ab und blickte sich um. Sie war mutterseelenallein hier. Irgendwo in den Baumwipfeln zwitscherten Vögel, der Wind hatte sich gelegt. Die Sonne schickte schräge Strahlen durch die Äste der Bäume und zauberte wundersame Lichtpunkte auf die Oberfläche des kleinen Sees. Viviane nahm allen Mut zusammen, löste ihren Gürtel und streifte ihr Kleid ab. Die Luft umhüllte ihren nackten Körper wie Seide, sanft, kaum fühlbar, etwas kühl und ungewohnt. Nur einmal hatte sie Seidenstoff mit den Fingern berührt, jedoch noch nie getragen. Und noch nie hatte sie nackt mitten im Wald an einem See gestanden. Sie nahm den Krug auf und hob den Blick zum Himmel. »Mutter Ma… nein … Frigg, du Göttin der Liebe, der Frauen, die du die Wolken gewebt hast. Ich opfere dir diesen Krug mit Bier, damit du mir deine Hilfe angedeihen lässt. Ich suche das Grün meiner Augen, damit ich es in den Mantel für den stolzen Fürstensohn Thoralf verweben kann. Vielleicht schenkt er mir dann die Freiheit. Nirgendwo finde ich dieses Grün, mit dem ich die Wolle färben kann. Deshalb erbitte ich deinen Beistand. Ich begebe mich in dein Reich, in deine Macht, in deinen Zauber …«
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, schritt Viviane in den See hinein. Das Wasser war flach, der Grund schlammig. Der Schlick quoll zwischen ihren Zehen hindurch. Sie ignorierte das unangenehme Gefühl. Wie kalte nasse Hände stieg das Wasser an ihren Beinen empor, über die Waden,
Weitere Kostenlose Bücher