Wogen der Sehnsucht
Tüll ihres Designerschleiers wirkte die Welt verschwommen, und sie nahm die unbekannten lächelnden Gesichter kaum wahr, die sich ihr zuwandten, während sie an ihnen vorbeischritt, genauso wenig wie die kunstvoll angebrachten Blumensträuße am Ende der Bänke oder die Kerzen, die in Leuchtern an den Säulen flackerten. Sie musste sich ganz darauf konzentrieren, einen in teure elfenbeinfarbene Seide gehüllten Fuß vor den anderen zu setzen … darauf, die sie ständig begleitende Übelkeit zu bekämpfen … darauf, es bis zu dem Mann zu schaffen, der mit dem Rücken zu ihr am Altar wartete.
Als sie den Strauß mit den weißen Rosen und den Maiglöckchen fester umfasste, schnitt ihr der schwere und immer noch ungewohnte Diamantverlobungsring in den Finger. Er war vor einer Woche angekommen, per Kurier, zusammen mit einer knappen Nachricht, in der Tristan ihr die Details ihrer Reise nach Barcelona mitteilte.
Das war alles.
Keine Erklärung, keine zusätzlichen Worte, um die spinnwebenfeinen Fäden zu stärken, die sie an den distanzierten, attraktiven Fremden banden, den sie heiraten sollte. Nichts, das ihr versicherte, das Richtige zu tun.
O Gott, tat sie das Richtige?
„Schnitt!“
Die Spannung wich sichtlich aus der „Gemeinde“, als der Regisseur des Spots vor sie trat und mit seinem Unterarm hin und her wedelte. „Lily, Darling, du bist auf dem Weg zu deinem Bräutigam, der Liebe deines Lebens, nicht auf dem Weg zu deiner Hinrichtung! Zeig uns ein bisschen mehr Freude, Darling, bitte! Das hier soll deine Hochzeit sein! Der glücklichste Tag im Leben einer Frau!“
„Tut mir leid, tut mir leid…“, murmelte Lily und umklammerte den Strauß mit den langsam welkenden Rosen. Der Gesichtsausdruck des Regisseurs wurde weicher, als er durch den Schleier blickte, und er sagte leise: „Hör zu, geht es dir gut da drunter? Sollen wir eine kleine Pause machen? Möchtest du etwas essen?“
Lily schüttelte den Kopf. Das Hochzeitskleid, das vom Modezweig des Unternehmens zur Verfügung gestellt worden war, fühlte sich so eng an, als wäre es irgendeine mittelalterliche Foltermethode, und ein Wagen würde sie in ein paar Stunden abholen, um sie zu dem Privatflugplatz zu bringen, auf dem Tristans Jet auf sie wartete. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um. „Nein, es geht mir gut, wirklich“, erklärte sie entschlossen. „Es tut mir leid. Ich bin jetzt bereit. Machen wir es noch mal.“
Der Regisseur drückte schnell ihren Arm und nickte dem Bräutigam zu, der mit dem Handy am Ohr am Altargeländer lehnte und mit seinem Freund in Mailand sprach. Lily hob ihre dünnen Seidenröcke und lief zurück zur Kirchentür, während der Regisseur in die Hände klatschte, um die Statistengemeinde zur Ordnung zu rufen und den italienischen Singsang an Unterhaltungen zu unterbrechen, der während der Pause eingesetzt hatte.
Unter ihrem Schleier spürte Lily Panik in sich aufsteigen. Sie atmete tief ein und strich über ihren langsam wachsenden Bauch. Ihr Herz zog sich voller Liebe zusammen, als sie an das Baby in ihr dachte. Deshalb machte sie das alles. Deshalb würde sie gleich in ein Flugzeug steigen und in eine fremde Stadt fliegen, um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte. Sie gab ihrem Baby einen Vater. Einen Namen. Das musste richtig sein, oder?
„Also los, Leute, wir drehen die Szene noch mal. Und denk dran, Lily, du schwebst auf einer Wolke des Glücks, Darling. Du bist verliebt und heiratest den Mann deiner Träume! Was könnte besser sein?“
Wenn er mich auch lieben würde, dachte Lily traurig, als sie noch einmal ins Scheinwerferlicht hinaustrat.
Tristan sah die Sekretärin seines Vaters nicht einmal an, als er durch ihr Büro lief und die großen Flügeltüren öffnete, die in Juan Carlos Romero de Losadas Allerheiligstes führten. Er hielt ein Stück Papier in der Hand – einen Ausdruck der Transaktionen, die die Bank in der vergangenen Woche getätigt und die er in Vorbereitung der morgigen Sitzung mit den Präsidenten der wichtigsten europäischen Banken gelesen hatte. Er knallte es seinem Vater auf den Schreibtisch, als die Sekretärin mit einem besorgten Gesichtsausdruck an der Tür erschien.
„Señor, es tut mir leid …“
Hinter dem Bollwerk seines riesigen Schreibtisches hielt Juan Carlos eine perfekt manikürte Hand hoch, an deren kleinem Finger der schwere Siegelring der Romeros funkelte.
„Bitte, Luisa, das ist nicht Ihre Schuld. Mein Sohn muss noch
Weitere Kostenlose Bücher