Wohin das Herz uns trägt
da und sahen einander an.
»Du bist nicht autistisch, nicht wahr?«, sagte Julia schließlich. »Du machst dir Gedanken über meine Gefühle. Wie wäre es, wenn ich den Gefallen erwidere? Du verrätst mir ein Geheimnis, und ich bin für dich da.«
Kapitel 15
Die nächsten zwei Wochen sorgte die Geschichte von der in Ungnade gefallenen Psychologin und dem namenlosen stummen Mädchen für reichlich Schlagzeilen. In der Polizeistation liefen die Telefone heiß, mit Anrufen von Ärzten, Psychologen, Therapeuten, Verrückten und Wissenschaftlern. Anscheinend gab es eine Menge Leute, die Alice vor Julias Unfähigkeit bewahren wollten. Dr. Kletch und Dr. Goldberg erkundigten sich jeden Tag nach ihr. Die Jugendfürsorge verlangte, zweimal pro Woche auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Aus allen Ecken meldeten sich Stimmen, die Alice in einem Heim unterbringen wollten.
Julia arbeitete achtzehn Stunden am Tag. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war sie bei Alice. Wenn das Kind eingeschlafen war, ging sie in die Bücherei, saß stundenlang am Computer und recherchierte im Internet.
Alles für Alice. Regelmäßig mittwochs und freitags erschien sie zu einer Pressekonferenz auf dem Polizeirevier. Sie stand auf dem Podium, dicht vor den Mikrofonen, berichtete in allen Einzelheiten von Alices Behandlung und gab jedes Detail, welches ein Hinweis auf ihre Identität sein konnte, sofort weiter. Aber das alles interessierte die Reporter gar nicht.
Stattdessen stellten sie endlose Fragen über Julias Vergangenheit, wollten wissen, was sie bedauerte, wo sie versagt und wie viele Patienten sie verloren hatte. Ihnen waren die Meilensteine in Alices Therapie gleichgültig. Aber Julia gab nicht auf. Heute hat sie mich berührt ... Sie hat ihre Bluse zugeknöpft.. Sie hat auf einen Vogel gedeutet... Sie hat eine Gabel benutzt.
Für die Reporter zählte einzig und allein, dass Alice noch nicht sprach. Dieser Umstand war für sie ein zusätzlicher Beweis dafür, dass man Julia nicht einmal mehr die Sorge für ein einzelnes Kind anvertrauen konnte.
Doch mit der Zeit wurde sogar das ständige Aufwärmen von Julias Fehlern langweilig. Die Artikel über sie und das Wolfskind wanderten von der Titelseite auf die nachfolgenden Seiten und reduzierten sich schließlich auf ein, zwei Absätze im Lokalteil oder unter Vermischtes. Bald war das unbekannte kleine Mädchen nicht mehr Gesprächsthema Nummer eins, sondern die Leute hatten jetzt die Mini-Erdbeben vom Mount St. Helens im Kopf.
Von ihrem Podium starrte Julia auf die wenigen noch in der Wache verbliebenen Reporter. CNN, USA Today ; die New York Times und die nationalen Sender waren bereits verschwunden. Nur noch Vertreter von ein paar Lokalblättern ließen sich sehen, die meisten davon aus kleinen Ortschaften in der Gegend, wie Rain Valley. Nach wie vor waren ihre Fragen pointiert und gehässig, aber sie wurden in gelangweiltem Ton vorgebracht. Niemand erwartete mehr, dass irgendetwas davon noch eine Rolle spielte.
»Das war alles für diese Woche«, sagte Julia und merkte plötzlich, dass es im Raum ganz still geworden war. »Die große Neuigkeit ist, dass sie sich selbst anziehen kann. Und sie zeigt eine klare Vorliebe für Dinge aus Plastik. Fernsehen interessiert sie nicht - ich glaube, die Bilder sind zu schnell für sie -, aber sie könnte sich den ganzen Tag Kochsendungen anschauen. Vielleicht bringt das jemanden auf eine Idee ...«
»Ach kommen Sie, Dr. Cates«, sagte ein Mann ganz hinten im Raum. Er war auffallend dünn, mit strähnigen Haaren und einem Mund, der für Zigaretten wie gemacht schien. »Keiner vermisst dieses Mädchen.«
Von den Anwesenden kam ein zustimmendes Gemurmel, ein paar lachten.
»Das ist nicht wahr. In dieser Welt taucht ein Kind nicht einfach auf und verschwindet wieder. Irgendjemand vermisst Alice.«
Ein Mann von KIRO-TV trat vor. Das Mitgefühl in seinen dunklen Augen war fast schwerer zu ertragen als die Gleichgültigkeit seiner Kollegen. »Ich weiß nicht, was dran ist an dem, was die Medien über Sie verbreiten, Dr. Cates, aber ich halte Sie für eine intelligente Frau. Mit diesem Kind stimmt doch was nicht. Damit meine ich, dass sie nicht nur eine kleine Macke hat, sondern einen richtigen Schaden. Ich glaube, deshalb hat ihre Familie sie im Wald ausgesetzt.«
Julia kam hinter dem Podium hervor und ging auf den Mann zu. »Sie haben keinerlei Beweise für Ihre Theorie. Es ist genauso wahrscheinlich, dass sie schon vor langer Zeit
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