Wohin die Liebe führt
Wahrscheinlich nicht, wie sie ihre Mutter kannte. Mutter hatte ihn sicher schon vergessen. Außerdem würde sie tief in ihrem Herzen noch immer viel zu eifersüchtig dazu sein. Sie dachte daran, wie wütend die Mutter gewesen war, als sie sie in Ricks Zimmer gefunden hatte. Sie hatte ihn angeschrien, und ihre Finger hatten häßliche Flecken auf seinen nackten Schultern hinterlassen. Sie hatte gedacht, die Mutter würde ihn umbringen. »Nein, Mutter, nein!« hatte sie geschrien.
Dann hatte die Mutter sie, nackt, wie sie war, den Korridor entlanggeschleift und in ihr Zimmer gestoßen. Dort hatte sie am Boden gekauert und abwechselnd gezittert und geweint, während der Streit zwischen den beiden im ganzen Haus widerhallte.
Nein, sie war überzeugt, daß Mutter ihm keine Blumen geschickt hatte. Aber sie war auch überzeugt, daß Nora Rick noch nicht vergessen hatte. Danis Augen waren trocken und brannten. Sie nahm ein neues >Wash ’N Dri<, tupfte ihr Gesicht damit ab, zerknüllte das Seidenpapier und warf es in den Papierkorb. Plötzlich fühlte sie sich entsetzlich einsam. Als sei das weggeworfene Stückchen Papier ein Band zur Vergangenheit gewesen, ein Band, das jetzt zerrissen war. Nur Rick hatte sich darum bemüht, sie zu verstehen, aber jetzt tat es niemand mehr. Niemand.
Sie begann wieder zu weinen.
Sally Jennings sah hinauf zur Uhr. Ein Viertel vor sechs. Ungeduldig betrachtete sie ihren Schreibtisch. Da lagen so viele Berichte, die hinausgehen sollten. Sie begann sie sorgsam zu ordnen. Vielleicht konnte sie noch einige fertig machen, wenn sie aus dem Theater kam.
Sie hatte lange darauf warten müssen, Karten für dieses Stück zu bekommen - und heute sollte nichts sie davon abhalten, es anzusehen! Wenn sie jetzt nach Hause fuhr, sich umzog und dann wieder herunter zur Stadt kam, hatte sie gerade noch Zeit, ein paar Bissen zu essen, ehe der Vorhang aufging.
Es klopfte an der Tür. »Ja!« rief sie ungeduldig.
Zuerst sah sie nur die weiße Tracht der Aufseherin hinter der Glastür, dann ging die Tür auf, und Dani stand dahinter.
Sie blieb auf der Schwelle stehen. »Miss Jennings«, sagte sie mit dünner, sanfter Stimme, »kann ich Sie sprechen?«
Die Psychologin blickte sie ein paar Sekunden an. Das Kind hatte geweint, das sah man, aber außerdem war ein so verlorener Ausdruck in ihren Augen, den sie früher noch nicht darin gesehen hatte. »Natürlich, Dani.«
Dani sah auf die offene Mappe. »Sie wollten gerade gehen, Miss Jennings. Oh, ich kann morgen früh wiederkommen.«
Sally schloß die Aktentasche und stellte sie hinter den Schreibtisch auf den Boden. »Nein - ich hatte mich gerade entschlossen, noch zu bleiben und heute abend zu arbeiten.«
Dani kam näher. »Ich möchte Sie aber nicht belästigen.«
Miss Jennigs lächelte ihr beruhigend zu - und wenn sie lächelte, sah sie plötzlich sehr jung aus. »Ich mach dir einen Vorschlag: Wir essen zusammen in der Kantine. Ich denke es mir nett, zur Abwechslung jemanden zum Schwatzen zu haben.«
Dani blickte über die Schulter nach der Aufseherin, die noch vor dem Büro wartete. »Meinen Sie. meinen Sie, daß ich das darf?«
Sally Jennings griff zum Telefon und wählte die erste Bewährungshelferin. Sie legte die Hand über das Mundstück. »Ich glaube, es läßt sich schon machen«, sagte sie zu Dani.
Vielleicht war es nicht gerade Erleichterung oder Dankbarkeit, was Sally in Danis Augen sah, aber plötzlich schien es ihr, als sei der verlorene Ausdruck aus dem Kindergesicht verschwunden. Und ebenso plötzlich kam Sally das Theaterstück, das sie schon so lange hatte sehen wollen, gar nicht mehr wichtig vor.
»Daß man einen Menschen nicht auf immer für sich hat, das merkte ich, als mein Vater aufhörte, mich zu besuchen.«
Dani saß Miss Jennings am Schreibtisch gegenüber und sah sie an. Sie waren gerade vom Essen zurückgekommen. »Verstehen Sie, wie ich das meine? Wenn man klein ist, hält man sich für den Mittelpunkt der Welt, und wenn man älter wird, merkt man plötzlich, daß man es nicht ist. Einen Monat lang habe ich jeden Tag geweint. Dann hatte ich mich daran gewöhnt.
Onkel Sam - das ist Mister Corwin - war wirklich nett. Mutter heiratete ihn, nachdem sie von meinem Vater geschieden war. Ich glaube, ich habe ihm irgendwie leid getan. Er nahm mich oft mit spazieren, wie es mein Vater getan hatte. Wir gingen in die Parks und in den Zoo. Einmal nahm er mich sogar zum Segeln mit. Aber er war nicht wie Daddy. Wenn ich bei Daddy
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