Wolf inside (German Edition)
Vulto blieb auf dem Flur vor dem Gästezimmer stehen. Er drehte sich herum. Seine Augen hielten die des Jungen fest. Noch immer waren die Nackenhaare leicht gesträubt.
Ich weiß, aber … ich habe schreckliche Angst. Sandro war auch stehen geblieben und lehnte sich gegen die Wand. Es ging ihm zwar besser als gestern, aber er fühlte sich schwach und er hatte furchtbaren Hunger. Auf frisches Fleisch.
Wovor?
Davor, dass sie dich fangen, davor, dass sie mich fangen, wenn ich … Sandro unterbrach sich, ihm wurde so warm, in seinen Adern begann es zu kribbeln, sein Pulsschlag erhöhte sich spürbar. Er rieb die Hände an seiner Jeans. Doch es half nichts. Das Kribbeln verstärkte sich, auch seine Kopfschmerzen fingen wieder an. Nervös begann er, hin und her zu gehen.
Ruhig, bleib ganz ruhig, Du darfst dich nicht aufregen. Wenn du dich aufregst, beschleunigst du den Prozess noch. Vulto kam langsam auf Sandro zu und stellte sich so, dass er ihn zwischen sich und der Wand hatte. Leg deine Hände auf meine Schulter. Mach die Augen zu und öffne deinen Geist.
Sandro gehorchte. Er vergrub seine Finger im dichten Fell und öffnete seine Gedanken.
Vulto dachte an die Sonorawüste in Arizona, an die endlose Weite dort. Die Stille. Es war die Zeit kurz nach Sonnenaufgang. Alles war in sanftes, goldenes Licht getaucht.
Er lief über die Ebene, genoss die Freiheit, rannte über Sand und kleine verdorrte Grasbüschel, ließ den Staub unter seinen Pfoten aufwirbeln. Sein Tempo war nicht besonders schnell, er spürte, wie sich seine Muskeln streckten, leichter Wind spielte mit seinem Fell. Es ging vorbei an den riesigen Saguarokakteen, zwischen denen sich eine dösende Klapperschlange versteckt hielt. Für sie war es noch zu kalt. Er sprang über ein paar Kreosotbüsche, deren gelbe Blüten in der Sonne zu leuchten begannen.
Der Wolf spürte die Sonne auf seinem Fell, sie legte sich auf ihn, wärmte ihn nach der Kälte der Nacht. Er lief, immer weiter, bis sich eine Hügelkette vor ihm erhob. Dann blieb er stehen, sah sich noch einmal um, sah über die Ebene zum Horizont.
So fühlte sich Freiheit an. Dann kehrte er in die Wirklichkeit zurück.
Sandro schlug die Augen wieder auf. Sein Puls hatte sich beruhigt, die Nervosität war gewichen. Nur der Hunger war geblieben.
Das war cool! Es fühlte sich so an, als sei ich wirklich dort gewesen, ich konnte den Sand unter meinen Füßen spüren!
Vulto war zufrieden.
Wann immer du das Gefühl hast, die Kontrolle zu verlieren, stell dir genau das vor. Lass es vor deinem inneren Auge entstehen. Du darfst dich nicht gehen lassen!
12
Ich hatte meinen Kaffee ausgetrunken, und mir nebenbei in Gedanken eine Liste mit allen wichtigen Dingen erstellt, die ich heute noch erledigen musste. Zuerst würden wir ins Büro fahren, dann musste ich mit dem Kleinen in seine Wohnung, er brauchte dringend Klamotten. Und dann mussten wir noch zu meinem Dad.
Ich war gerne bei meinem Dad. Er wohnte ziemlich weit draußen, fast schon in der Wildnis. Er hatte sich dorthin zurückgezogen, als Mom starb. Über Internet und Telefon hielt er Kontakt zur Außenwelt, oft trafen sich seine alten Kollegen bei ihm, sie konnten dort auf dem riesigen Grundstück angeln, grillen und auch mal ordentlich die Sau rauslassen.
Ich spülte noch schnell meine Tasse ab, dann suchte ich meine Klamotten zusammen. Sandro und der Wolf saßen friedlich nebeneinander auf der Erde im Flur, was immer zwischen den beiden gewesen war, schien jetzt vorbei zu sein.
Mein Büro befand sich in einem ganz normalen kleinen Mietshaus mit vier Etagen. Es handelte sich um eine kleine Zweizimmerwohnung im ersten Stock. Früher hatte ich hier gewohnt.
In diesem Viertel gab es sie noch, die kleinen Lädchen, Familienbetriebe und die Spezialitätenhändler. Unter meinem Büro war der kleine Kaufladen von Mr. Wang, die Schaufenster waren vollgestopft mit allerlei asiatischem Krimskrams, ein Stück weiter war Dragans Imbiss, bei ihm gab es die besten ungarischen Paprikas, die ich jemals gegessen hatte. Sie waren so scharf, dass es schon fast an Körperverletzung grenzte. Und dann war da noch Sullys Bar, nur eine Querstraße weiter, in der hatte ich schon so einige Abende verbracht. Ich hatte gerne hier gelebt.
Schon durch die geschlossene Tür war zu hören, dass Rosie zu hundert Prozent geladen war. „Verdammt Billy Ray! Ich will nicht, dass du das tust, haben wir uns verstanden?“
Die Antwort von ihrem Enkel konnte ich nicht hören.
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