Wolf Shadow 01 - Wilks, E: Wolf Shadow 01
Stunden. Im Grunde hätte er in diesem Moment an zwei Orten gleichzeitig sein sollen – obwohl er eigentlich an keinem von beiden sein wollte. Er hatte den ganzen Morgen versucht, Cullen zu erreichen. Er musste ihn finden oder wenigstens in Erfahrung bringen, ob sein Freund nur wieder einmal abgetaucht war. Von Zeit zu Zeit verschwand Cullen nämlich von der Bildfläche, ohne jemandem zu sagen, wohin er ging und wann er zurückkehrte. Das allein war oft schon ärgerlich genug.
Und jetzt noch ärgerlicher als sonst.
Rule ermahnte sich zur Ruhe und versuchte, sich zu sammeln. Es war schon sehr lange her, dass er in seiner anderen Gestalt durch diese Hügellandschaft gestreift war. Aber auch das letzte Mal, als er sie in menschlicher Gestalt betreten hatte, lag schon lange zurück. Er musste die Natur von Neuem in sich aufnehmen, sich von ihr aufnehmen lassen, aber dazu fehlte die Zeit … und trotzdem befand er sich jetzt hier.
Er hielt prüfend die Nase in den Wind, versuchte, den Ursprung des Kaninchengeruchs ausfindig zu machen, und entdeckte ihn unter einem struppigen Busch. Dort kauerte zitternd ein kleines graubraunes Fellbündel, das farblich kaum vom Erdboden zu unterscheiden war. Rule beobachtete es regungslos und atmete tief ein und aus. Das half.
Ihr Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf … ein herzförmiges Gesicht mit einer schönen, geraden Nase und dunklen mandelförmigen Augen. Wenn sie lächelte, rundeten sich ihre Wangen, und sie war dann noch hübscher. Er dachte an ihre Haut – wie Sahne, mit einem Schuss Honig darin. Und ihr Duft! Würzig. Hundertprozentig menschlich. Einzigartig.
Die Erinnerungen erregten ihn und versetzten ihn in Unruhe. Er wollte sie sofort sehen, nicht erst in zwei Stunden.
Und das war kein gutes Zeichen. Ganz und gar nicht.
Wenige Minuten später hörte er das Knirschen von Autoreifen auf Schotter. Das Kaninchen verließ fluchtartig seinen Unterschlupf. Rule drehte sich um und sah, dass ein dunkelgrauer Jeep hinter seinem Cabrio anhielt. Zu seiner Überraschung stiegen zwei Männer aus – erwartet hatte er nur einen. Beide trugen Jeans und Sportschuhe. Beide hatten nackte Oberkörper. Der Fahrer hatte drei frische lange Narben auf der Brust; eine Folge des Angriffs zwei Tage zuvor.
Er war ein stämmiger Kerl mit der Statur eines Fullbacks und den Händen eines Basketballspielers. Er war ungewöhnlich dunkel für einen Lupus und hatte die kupferfarbene Haut seiner Mutter. Sein schwarzes Haar war sehr kurz und glänzte silbrig. In der langen Lederscheide auf seinem Rücken steckte eine Machete, in jener an seinem Gürtel ein Messer. Die Klingen beider Waffen waren sehr scharf, wie Rule wusste, obwohl die Metalllegierung aufgrund des hohen Silberanteils sie recht weich und biegsam machte.
Die Statur des Beifahrers entsprach in etwa der Form der Machete des anderen – er war groß und schlank und hatte breite, knochige Schultern. Er hatte ein schmales Gesicht, helle Haut und Augen, und sein hellbraunes Haar war lang genug, dass er es zu einem Zopf zusammenbinden konnte. Die meisten Leute hätten ihn ungefähr auf Rules Alter geschätzt.
Und sie hätten recht gehabt. Auch wenn die meisten gar nicht wussten, wie alt Rule wirklich war.
„Mick!“ Rule richtete sich auf und spürte, wie seine innere Anspannung plötzlich zurückkehrte. „Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.“
„Bin mal kurz runtergekommen“, sagte der schmalere der beiden Männer und kam auf Rule zu. „Der Weinberg hält es auch ein paar Tage ohne mich aus. Toby lässt dich grüßen. Und er bittet um Kaubonbons oder irgendetwas anderes, das schlecht für die Zähne ist. Du weißt ja, wie sehr Nettie auf gesunde Ernährung achtet.“
Rules Herz machte einen Sprung. „Du hast ihn gesehen?“
„Nur ein paar Minuten, bevor ihn die Sklaventreiber zu seinem Unterricht geschleppt haben. Ich finde, du hast überreagiert“, entgegnete Mick. „Es bestand kein Grund, den Jungen quer durchs ganze Land zu schleifen. Kein Lupus würde einem Kind etwas zuleide tun!“
Rule schüttelte nur den Kopf. Mick wusste nichts von Cullen und den Dingen, die er herausgefunden hatte. Vorsicht war besser als Nachsicht. Rule streckte die Hand aus, und die beiden begrüßten sich förmlich, indem sie sich an den Unterarmen fassten. Dann grinste Mick und schlug Rule so fest auf den Rücken, dass ein Mensch aus dem Gleichgewicht geraten wäre.
Es war nicht Micks scheinbar freundschaftlicher Schlag, der Rule
Weitere Kostenlose Bücher