Wolf Shadow Bd. 8 - Tödlicher Zauber
wird, ist so instabil, dass ich nicht viel empfange.«
Das hatte er ihr schon einmal erzählt. »Zu viele Scheidepunkte, haben Sie mir einmal gesagt. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Entscheidungen, zu viele Menschen bestimmen, wie letztlich ein Ereignis ausfällt, und je weiter dieses Ereignis in der Zukunft liegt, desto mehr multiplizieren sich diese, bis es nur noch so etwas wie atmosphärische Störungen sind.«
Er nickte. »Und trotzdem hatte ich auf einmal klare Visionen von Ereignissen, die zu diesem Zeitpunkt noch drei Monate entfernt waren, manche sogar sechs und mehr. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Die Zukunft war künstlich konzentriert worden. Ich begriff, dass ein außerordentlich starker Mustersichter die Ereignisse manipuliert hatte, indem er sie durch einen einzigen Kanal fließen ließ. Als ich das verstanden hatte, konsultierte ich Sherry. Sie wissen, dass ihr Coven mittels einer Simulacrum-Karte die Netzknotenaktivitäten im ganzen Land beobachtet.«
Ja, das wusste Lily, auch wenn sie keine genaue Vorstellung davon hatte, wozu eine »Simulacrum-Karte« gut war. Sie nickte.
»Wir hatten gehofft, sie könnte rekonstruieren, was an dem Netzknoten passiert, den man benutzt hatte, um Friar seine Gabe zu verleihen. Bisher ist es ihr jedoch nicht gelungen. Doch dabei entdeckte sie, dass so gut wie alle Knoten im Land von einer einzigen, wenn auch nicht identifizierbaren Quelle angezapft werden.«
»Alle Knoten? Aber das ist nicht möglich. Das ist … müssen sich denn die Praktizierenden nicht in räumlicher Nähe befinden, um – «
»Das haben wir immer geglaubt. Ein einzelner Mustersichter muss über sehr viel Macht verfügen, um Ereignisse im ganzen Land beeinflussen zu können.«
Plötzlich meldete sich Fagin zu Wort. »Man nennt sie auch die Gabe der Götter, wissen Sie. Muster zu sichten ist die subtilste und gefährlichste aller Gaben. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie schon einmal Bekanntschaft mit einem Mustersichter gemacht.«
Lily warf Ruben einen scharfen Blick zu. Offenbar hatte er Fagin so einiges anvertraut, darunter auch streng vertrauliche Informationen. »Eigentlich kenne ich sogar mehr als einen.«
»Tatsächlich?« Fagins buschige Brauen schossen in die Höhe. »Ich meinte jemanden namens Jiri. Sie hatten einige Probleme, sie zu überwältigen.«
»Ich habe sie nicht überwältigt«, sagte Lily trocken, »ich bin einfach nur am Leben geblieben. Sie nicht, aber nur, weil ihr nur eines wichtig war. Und das hat sie bekommen.« Das Leben ihrer Tochter. Jiri war sicherlich kein guter Mensch gewesen, aber sie hatte ihr Leben für das ihrer Tochter hergegeben. Das Mädchen war anschließend vom Lu Nuncio der Leidolf adoptiert worden.
Fagin legte die Fingerspitzen über seinem Bauch aneinander. »Dann kennen Sie sich mit dieser Gabe ja ein bisschen aus. Mustersichter kommen nur selten vor, und dafür können wir dem Himmel danken. Zuerst ist die Gabe fast immer nur schwach ausgeprägt. Ein schwacher Sichter nimmt Ereignismuster unbewusst wahr. Er kann lernen, seine Gabe so zu benutzen, dass seine Wirkung auf Ereignisse weniger zufällig ist, aber er nimmt die Muster nicht zielgerichtet wahr. Das kann nur ein starker Sichter. Ein starker und erfahrener Sichter kann diese Muster auf subtile Weise so manipulieren, dass das geschieht, was er will.«
»Ich dachte, alle Mustersichter täten das.«
»Sie wirken alle auf Ereignisse ein, doch die Schwachen nur leicht und oft auf nicht vorhersehbare Weise. Ein starker, aber erfahrener Sichter dagegen … das ist jetzt vielleicht ein wenig viel Theorie«, sagte er entschuldigend. »Starke Mustersichter sind so selten, dass wir nicht über gesicherte Daten verfügen, wie ihr Gift funktioniert, aber es gibt einzelne Berichte und historische Zeugnisse. Ein starker, aber ungeübter Sichter wird im Allgemeinen ein Meister einer bestimmten Anwendungsweise seiner Gabe, doch nicht in allem. Napoleon ist ein gutes Beispiel für diesen Typus.«
Sie blinzelte. »Ach ja?«
»Ganz sicher. Er wird oft als militärisches Genie dargestellt, aber sein wahres Talent lag im Ränkespiel der Politik – und dort setzte er auch seine Gabe sehr wirksam ein. Letztendlich wurde er dann auf dem Schlachtfeld besiegt, doch politisch nie. Wenn er sich die Zeit genommen hätte, seine Gabe besser zu entwickeln, bevor er sein Land in den Krieg stürzte, hätte es ihm möglicherweise die Niederlage erspart. Ich vermute, dass Jiri beides war: eine starke
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