Wolf unter Wölfen
Wort auf der Zunge und schluckt es wieder hinunter. Wenn man die Zusammenhänge kennt, weiß man, daß der Tadel prompt an die Küche in der Villa weitergehen wird und von der Küche an die gnädige Frau – Herr von Studmann möchte nicht, daß Frau Eva jetzt noch mehr Ärger hätte.
Nun knirschen draußen die Wagenräder im Kies: Kutscher Hartig ist vorgefahren. Studmann verzichtet auf Kaffee und angetrocknetes Brot. Er brennt sich eine Zigarre an, fährt in seinen Mantel und tritt aus dem Haus.
Draußen redet der Kutscher Hartig hoch vom Bock mit dem Landjäger, der nach einer fruchtlosen Nachtwache kalt und verärgert ist. Studmann grüßt und erkundigt sich, was es Neues gibt.
Es gibt nichts Neues, die Nachtwache war ebenso vergeblich wie das Durchtreiben des Waldes gestern nachmittag. Nicht die geringste Spur von den Kerlen! Es ist alles Unsinngewesen, man hätte natürlich alles anders anfangen müssen; der Landjäger, erfroren, verärgert, entwickelt seinen Plan …
»Hören Sie, Herr Oberwachtmeister, ich muß jetzt zur Bahn«, unterbricht Herr von Studmann. »Aber drin im Büro steht noch mein Kaffee. Er taugt nicht viel, ist aber warm. Wenn Sie den trinken mögen? Aber bitte recht leise, der junge Mann nebenan schläft …«
Der Landjäger dankt und geht auf das Büro. Der Wagen mit dem rauchenden Studmann und dem schweigsamen, immer brummigen Hartig rollt zur Bahn. Es ist vier Uhr fünfzehn. –
»Es ist erst vier Uhr fünfzehn«, sagt Frau Eva ganz überrascht und starrt ungläubig den kleinen Reisewecker auf ihrem Nachtschränkchen an.
Es war ihr, als habe jemand nach ihr gerufen – Weio? Achim? Sie ist im Bett hochgefahren und hat ganz mechanisch auf den Knopf der Nachttischlampe gedrückt. Nun sitzt sie da, aufrecht in den Kissen, und lauscht.
Leise, leise tickt das Weckerchen, die Armbanduhr daneben scheint dem Gehör nach eiliger zu ticken, ist aber auch erst vier Uhr fünfzehn. Der Wind heult um das Haus, sonst nichts. Kein Ruf. Alle schlafen, es ist so still, es ist Friede. Frau Eva ist unglaublich frisch und ausgeschlafen, irgend etwas wie eine unbestimmte Freude sitzt in ihr – aber was in aller Welt soll sie in den vier Stunden bis zu ihrer gewöhnlichen Kaffeezeit anfangen –?
Erstaunt, fast ein wenig unzufrieden betrachtet sie ihr Zimmer, das ihr keine Ablenkung, Zerstreuung bieten kann. Einen Augenblick erwägt sie, ob sie nicht aufstehen und bei Weio nachsehen soll, ob sie vielleicht im Traum gerufen hat. Aber es ist so schön warm im Bett, und überhaupt: Weio ist jetzt ein großes Mädel! Es sind die Zeiten nicht mehr, daß sie des Nachts ganz selbstverständlich fünf-, sechsmal aus dem Bette fuhr und auf Zehenspitzen zu ihrer Kleinen schlich. Schöne, verronnene Zeiten, selbstverständliche Pflichten, die so gerne erfüllt wurden, natürliche Sorgen, die das Leben mitsich brachte, weil es das Leben war … Nicht all dieser unnötige, künstliche Sorgenkram von heute, das überflüssigste Zeug von der Welt!
Der Rücken der Frau strafft sich, auch ihr Gesicht wird straffer. Plötzlich überfällt sie wieder, was in der Schlafseligkeit der ausgeruhten Glieder versunken war, daß sie in einem zerfallenden Hause sitzt, daß sie Glied einer sich auflösenden Familie ist, daß dieser Boden, auf dem ihr Bett ruht, sich ihr entzieht, daß die Tür zum Schlafzimmer ihres Mannes verschlossen ist, nach einer bösen Szene gestern abend verschlossen wurde. Ihre Stirn hat Falten, die vollen, schönen Schultern hängen vornüber, sie ist plötzlich eine alte Frau, sie grübelt: Wie habe ich Jahre um Jahre mit ihm zusammen leben können und dies ertragen?!
Es scheint ihr unmöglich, auch nur noch eine Woche so weiter mit ihm zu leben, und sie hat es fast zwanzig Jahre ertragen! Es ist unfaßlich! Und ihr scheint, als habe sie völlig die Gabe verloren, Geduld mit ihm zu haben, Nachsicht zu üben, mit Frauenlist etwas von ihm zu erreichen; als sei mit ihrer Liebe zu ihm auch jede Fähigkeit, mit ihm fertig zu werden, geschwunden.
Mein Gott, er war schon manches Mal zuvor angesäuselt nach Haus gekommen. Eine Ehefrau lernt das ertragen, obwohl die Mischung von Alkoholgeruch und Zigarettenrauch, von Großreden und plötzlicher Zärtlichkeit immer etwas schwer zu Ertragendes bleibt. Aber daß er gerade diesen Nachmittag dazu benutzt hatte, daß er es nicht hatte abwarten können, in seiner baren Unvernunft grade ihrem Bruder den Wagen vorzuführen, daß er heimlich vor ihr ausgerissen war,
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