Wolf unter Wölfen
mehr da … Man hatte einst Eltern gehabt, mit denen man nicht gut, aber erträglich stand – man hatte keine Eltern mehr. Man hatte einen Mann gehabt und eine Tochter – man hatte sie nicht mehr. Man hatte Verkehr im Lande gehabt – wann waren sie das letztemal ausgegangen? Man hatte ein gemütliches Heim gehabt – nun ja, jetzt saß man allein am Frühstückstisch, der Diener war entlassen, und nachts wurden die Türen zwischen den einzelnen Schlafzimmern sorgfältig verschlossen – so sah heute ein Heim aus!
Ein Gefühl verzweifelter Ohnmacht, eine verhängnisvolle, lähmende Trauer steigt aus alldem auf – hatte es je eine Zeit gegeben, in der es sich so wenig zu leben verlohnte?! Es juckte einen in allen Fingern: man mußte doch irgend etwas tun können, um aus diesem Sumpf herauszukommen! Aber alles, was man tat, führte auf geheimnisvollen Wegen nur tiefer hinein. Jede Tat kehrte sich gegen den Täter!
Das Mädchen Armgard steht wieder in der Tür. Sie meldet halb verlegen, halb trotzig: »Hubert sagt, er ist nicht mehr im Dienst. Er sagt, er hat es nicht nötig, zu kommen.«
»Das wollen wir doch mal sehen!« ruft Frau von Prackwitz zornmutig und ist mit fünf Schritten auf der Diele.
»Gnädige Frau! Ach, bitte, gnädige Frau!« ruft das Mädchen hinter ihr beschwörend.
»Was ist denn noch?« fragt sie ärgerlich. »Kein Getratsch mehr, Armgard!«
»Aber gnädige Frau müssen doch wissen!« sagt Armgard und tritt ganz nahe heran, um leise reden zu können. »Hubert hat dem Herrn Rittmeister doch so gedroht! Von einem Waffenlager war die Rede. Herr Rittmeister war ganz weiß …«
»Und das haben Sie von der Küche im Souterrain aus gesehen, Armgard?« fragt Frau Eva spöttisch.
»Wo doch die Tür zum Speisezimmer aufstand, gnädige Frau!« Armgard ist schwer beleidigt. »Ich ging doch grade rauf, um einen Rollschinken zu holen, und die Tür stand eben auf. Ich bin nicht neugierig, gnädige Frau, ich meine es bloß gut …«
»Schön, schön, Armgard« sagt Frau von Prackwitz und will wieder gehen.
»Aber, gnädige Frau, Sie wissen doch noch nicht …«, wird sie wiederum beschworen. »Und dann hat der Hubert noch von einem Brief geredet, von einem Brief von dem gnädigen Fräulein, und der hat auch mit dem Waffenlager zu tun …«
»Quatsch!« sagt Frau von Prackwitz gänzlich ungeniert und steigt hinunter in das Souterrain, ohne weiter auf Armgard zu achten. Alles Quatsch und Schlüssellochguckereiund Türenhorcherei. Der Hubert hat natürlich gestern nachmittag an der Tür gelauscht, als sie mit ihrem Mann von der Autoanschaffung und dem Putsch geredet hat – und nun er hinausgeworfen ist, will er sich rächen. Sie wird ihm schon den Kopf zurechtsetzen! Daß nun aber gar Weio Briefe über Waffenlager schreiben sollte, das ist solch blühender Blödsinn, richtiges Ergebnis einer Schlüssellochlauscherei …!
Der Diener Räder steht über einen auf dem Bett liegenden Handkoffer gebeugt, in den er mit peinlicher Pedanterie eine sorgfältig zusammengelegte Hose packt. Er berücksichtigt sozusagen jedes Millimeter. Das Bett, auf dem der Handkoffer liegt, ist bereits abgezogen. In ihre Kniffe gelegt, hängt die Bettwäsche über einem Stuhl, aber trotzdem ist unter dem Handkoffer zur Schonung des Bettes ein großer Bogen Packpapier ausgebreitet. Minutiöse Genauigkeit bis zur letzten Minute – ganz Hubert Räder!
Bei diesem Anblick und noch mehr beim Anschauen des fischigen, grauen, unbewegten Gesichts vergeht der gnädigen Frau alle Lust, zu schelten. Mit einigem Humor sagt sie: »Also Sie wollen uns verlassen, Meister Hubert?«
Hubert hat jetzt eine Weste in der Hand. Er hält sie prüfend gegen das Licht, dann legt er sie zusammen, den Stoff nach innen, das Futter nach außen, ganz wie es sich gehört. Aber daß er überhaupt nicht antwortet, das gehört sich wirklich nicht!
»Nun, Hubert?« fragt Frau Eva lächelnd. »Keine Antwort? Sind Sie auch mit mir böse?«
Hubert legt die Weste in den Koffer und macht sich an das Jackett. Ein Herrenjackett ist sehr schwierig zusammenzulegen. Er bückt sich tief darüber und spricht kein Wort.
»Hubert!« sagt die gnädige Frau schärfer. »Seien Sie doch nicht albern! Wenn Sie auf Herrn Rittmeister ärgerlich sind, brauchen Sie doch nicht unhöflich zu mir zu sein!«
»Gnädige Frau!« erklärt Hubert feierlich und hebt sein graues, trübes Auge. »Herr Rittmeister hat mich behandelt wie einen Sklaven …«
»Nun, und Sie werden meinem Mann
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