Wolfgang Hohlbein -
versprechenden Feuer auf.
Tobias zitterte. Er hatte die Gewalt über seinen Körper zurückerlangt, aber in seinem Inneren tobte ein Orkan.
Seine Gedanken irrten wild im Kreis, zersplitterten wie ein zerschlagener Spiegel, der die Wirklichkeit in zahllosen, voneinander unabhängigen Ausschnitten zeigte. Er verspürte gleichzeitig ein Glück und eine Furcht wie niemals zuvor, war zugleich halb von Sinnen vor Angst wie auch Glück, wollte sie an sich pressen und von sich stoßen, fühlte Wärme und Kälte, Ekstase und Ekel - alles zugleich und noch viel, viel mehr. Gefühle, wie er sie niemals kennengelernt, ja nicht einmal für möglich gehalten hatte. Er wußte noch immer, daß dies ein Traum war, aus dem er nicht aufwachen konnte, so sehr er es auch versuchte, und doch war es auch die andere Seite der Wirklichkeit. Tiefer und bedeut-samer als alles, was er zuvor erlebt hatte.
Aber er mußte aufwachen.
Er versuchte es langsam, unendlich langsam. Mit Bewegungen, für die er Minuten brauchte, um auch nur einen Finger aus ihrer Berührung zu lösen, versuchte er, die Hände zurückzuziehen und sich gleichzeitig einen Schritt von ihr zu entfernen. Katrin versuchte nicht, ihn zurückzuhalten, aber in das Lächeln auf ihren engelsgleichen Zügen mischte sich erst Überraschung, dann Enttäuschung. »Warum hast du Angst vor mir?« fragte sie.
251
Auch ihre Stimme war nicht mehr ihre Stimme. Es war ein seidiger Engelsklang, ein Laut wie der Flügelschlag einer Elfe, ein Geräusch, das ihn wie eine Berührung traf und aufstöhnen ließ. Seine Bewegung erstarb endgültig. Sie war wieder da! Nichts an ihrer Gestalt oder ihrem Gesicht änderte sich, und doch war sie plötzlich nicht mehr die Katrin, die er sterbend aus dem Turm in des Grafen Haus befreit hatte, sondern die Katrin seiner Erinnerung, das zwölfjährige Mädchen seiner Jugend, nun eine erwachsene Frau und doch unverändert. Aller Schmerz und alle
Schrecken waren vergessen, waren nie geschehen, denn zwischen jenem Tag vor siebzehn Jahren und heute lag nichts mehr, ganz einfach, weil die Zeit an diesem verzauberten Ort ihre Macht verloren hatte.
Er antwortete nicht auf ihre Frage, aber er löste seine Hand nun endgültig aus ihrem Griff, doch nicht, um vor ihr zurückzuweichen. Vielmehr trat er wieder auf sie zu und berührte sanft ihr Gesicht mit beiden Händen, auf genau die gleiche Art, auf die er es damals an jenem Abend am See getan hatte.
Katrin schloß die Augen. Ihr Lächeln erlosch, und ein intensives Gefühl des Glücks legte sich auf ihre Züge. Er konnte fühlen, was sie empfand. Die magische Zauberkraft ihrer Berührung wirkte noch immer, seine Hände bildeten eine Brücke zwischen ihren beiden Körpern, die für einen kurzen, unendlich süßen Moment ihre Seelen miteinander verschmelzen ließ, viel, viel tiefer, als es eine körperliche Vereinigung jemals gekonnt hätte. Für Momente war er sie und sie er, wurden sie zu einem einzigen, großen Wesen, das nur aus Glück und erfüllter Sehnsucht bestand. Dann nahm er die Hände wieder herunter, und das Band zerriß, aber nicht vollständig. Wo Angst und Unsicherheit gewesen waren, da blieben Überzeugung und Zufriedenheit. Er wußte plötzlich, daß nichts, keine Macht der Welt, sie wieder trennen konnte. Er hatte sie wiedergefunden, nach so unendlich langer Zeit, und dieses Wiedersehen hatte einen Sinn, den er allmählich verstehen würde.
»Tobias«, flüsterte Katrin. Er umarmte sie, strich ihr zärt-252
lieh eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küßte sie. Es war ein Rausch, eine Ekstase, die alles übertraf, was er sich je hatte vorstellen können.
Diesmal war es Katrin, die sich aus seiner Umarmung löste. Sie trat einen halben Schritt zurück, blickte lächelnd zu ihm hinauf und streckte die Hand aus. Als er sie ergriff, drehte sie sich herum und lief leichtfüßig zur Mitte der Lichtung, wobei sie ihn mit sich zog. Dort angekommen, blieb sie stehen, umarmte ihn und küßte ihn wieder, diesmal wild und voller Verlangen. Sie umarmten sich, preßten sich mit aller Macht aneinander und streichelten einander. Tobias zitterte vor Wonne und Begierde. Seine Nerven schienen in Flammen zu stehen. Alles, was er je geschworen hatte, alle Eide und Versprechen, jedes Gelübde, das er abgelegt hatte, waren vergessen und bedeutungslos geworden. Er hatte seinen Glauben verloren in jener entsetzlichen, finsteren Kammer in Theowulfs Schloß, und nun, auf dieser noch entsetz-licheren, finsteren Lichtung
Weitere Kostenlose Bücher