Wolfgang Hohlbein -
nicht. Dieser Wald war tot, so tot, wie ein Stück Land nur sein konnte. Selbst die Bäume und das dornige Unterholz hatte der Pesthauch des Sees ausgelöscht.
Wieder war es Katrin, die die Führung übernahm, als sie losgingen. Sie bewegte sich geschickt und blieb immer wieder stehen, um zu lauschen. Nur zwei- oder dreimal blieb ihr Kleid an einem Zweig hängen, und nur ein einziges Mal mußte Tobias ihr helfen, um einen besonders hartnäckigen Busch auseinanderzubiegen. Dann hatten sie den Waldrand erreicht und traten in die Nacht hinaus.
Tobias blickte sich mit klopfendem Herzen um. Nach der absoluten Finsternis der vergangenen Stunden erschien ihm das Licht der Sterne unnatürlich hell. Er hatte das Gefühl, meilenweit sehen zu können. Sehr weit entfernt - viel weiter, als es eigentlich sein durfte - glaubte er, Buchenfeld zu erkennen, einen gedrungenen Schatten, der wie ein monströses Tier auf dem flachen Land hockte. Ohne ein weiteres Wort wandte sich Katrin nach Süden. Sie gingen allerdings nur ein paar Schritte, ehe Tobias abermals stehenblieb und lauschte.
»Was hast du?« fragte Katrin.
Tobias schüttelte den Kopf und gebot ihr gleichzeitig mit einer Geste, zu schweigen. Er hatte etwas gehört. Er war völlig sicher, und er wunderte sich ein wenig, daß Katrin das Geräusch nicht auch vernommen hatte. Gebannt versuchte er, die Dunkelheit zu durchdringen. Aber das einzige, was er hörte, waren seine eigenen Atemzüge und das kaum wahrnehmbare Rascheln des Windes in den Bäumen.
»Komm weiter!« drängte Katrin. »Wir -«
Tobias hob abermals die Hand und unterbrach sie. »Still«, sagte er.
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Katrin sagte nichts mehr, aber sie sah ihn erschrocken an, und dann runzelte sie die Stirn.
Wieder machte sich Panik in Pater Tobias breit und drohte für einen Moment, sein klares Denken zu übermannen. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Er war dieser Situation nicht gewachsen. Er sollte so etwas nicht tun, dachte er hysterisch. Er konnte so etwas nicht. Er war ein Mann des Friedens, er konnte mit Worten streiten, nicht mit Waffen. Er hatte alles falsch gemacht von dem Moment an, in dem er Katrin aus dem Turm geholt hatte, und er war auf dem besten Weg, auch den Rest zu verderben. Er ...
Pater Tobias zwang sich mit aller Gewalt, den Gedanken nicht zu Ende zu denken, ballte die Hände zu Fäusten, um ihr Zittern zu unterdrücken, und schloß für einen Moment die Augen; so heftig, daß es vor seinen Augen flimmerte. Als er sie wieder öffnete, hatte er sich einigermaßen beruhigt.
Aber es war eine trügerische, gefährliche Ruhe, eine Ruhe, die bei der geringsten Gefahr, beim leisesten Geräusch vergehen würde.
»Ich ... ich kann das nicht«, flüsterte er. Er sah Katrin an, und seine Stimme wurde beinahe flehend. »Bitte, Katrin . . .«
Sie trat rasch auf ihn zu, hob die Hand und legte sie beruhigend auf seinen Arm. »Ich weiß«, sagte sie sehr leise. »Hab keine Angst, Tobias. Ich beschütze dich.«
Wäre er auch nur halbwegs zu klarem Denken fähig gewesen, so hätte er in diesem Moment wahrscheinlich schrill aufgelacht. Sie beschützte ihn! Das war . . . absurd. Einfach lächerlich.
»Ich bin ein schöner Held, nicht wahr?« fragte er und versuchte zu lächeln, aber sein Mund verzog sich nur zu einer Grimasse.
»Das bist du«, antwortete sie völlig ernst. »Was du getan hast, war ungeheuer tapfer, Tobias. Ganz egal, wie es aus-geht - ich habe nie einen mutigeren Mann als dich gesehen.«
Er war nicht sicher, ob diese Worte ehrlich gemeint waren 354
oder nur dem Zweck dienten, ihn zu beruhigen. Aber so absurd es ihm auch vorkam, er fühlte sich in Katrins Nähe sicher. Sie kannte jeden Fußbreit Boden, sie kannte die Menschen hier, ihre Art zu denken und zu handeln, und sie war stark, viel stärker als er.
Sie gingen weiter, ließen den Hain hinter sich. Plötzlich verharrte Tobias und sah aus zusammengekniffenen Augen zum Waldrand zurück.
»Was ist denn?«
Es gelang Katrin jetzt nicht mehr, die Ungeduld in ihrer Stimme zu überspielen.
Aber Tobias antwortete nicht, sondern blickte nur weiter angestrengt zum Wald zurück, wandte sich schließlich sogar um und begann, den Weg zurückzugehen.
»Was hast du vor?« fragte Katrin entsetzt. »Du -«
Tobias blieb in einiger Entfernung zum Waldrand stehen, blickte einen Moment gebannt in das Dickicht aus verfilztem Geäst und totem Holz und starrte dann wieder zu Boden. In dem schlechten Licht war es kaum zu
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