Wolfgang Hohlbein -
erkennen, und im Grunde war es nur ein Zufall, daß er es überhaupt gesehen hatten, aber jetzt, aus der Nähe, war es auch nicht mehr zu übersehen: Der Boden an dieser Stelle war frisch aufgewor-fen, »jemand hat hier gegraben«, sagte er, »vor ganz kurzer Zeit.«
Katrin starrte mit gerunzelter Stirn auf das dunkle Erdreich vor ihm. »Wie meinst du das?«
Statt zu antworten, ließ sich Tobias in die Hocke sinken und streckte die Hände aus. Das Erdreich unter seinen Fingern war feucht und locker, nicht der harte, verbrannte Boden der Felder ringsum, sondern weiche Erde, die aus der Tiefe hochgeworfen war und der noch der faulige Geruch des Sees anhaftete, der den Boden hier überall durchtränkte.
Er mußte plötzlich wieder an die Knochengesichter denken, die er für einen ganz kurzen Moment am Seeufer gesehen hatte. Sie hatten etwas getragen. Und er begann zu ahnen, was es war.
»Hier ist etwas vergraben worden«, flüsterte er.
»Unsinn!« antwortete Katrin unwillig und machte eine 355
ärgerliche Handbewegung. »Und selbst wenn - was willst du tun? Es wieder ausgraben? Vielleicht mit bloßen Händen?«
Genau das werde ich tun, dachte Tobias zornig und grub die Hände in das lockere Erdreich.
Katrin stöhnte ungläubig auf. »Was soll das?« fragte sie fassungslos. »Du -«
»Schweig!« unterbrach Tobias sie. »Hilf mir lieber.«
Katrin starrte ihn verblüfft an und schüttelte immer wieder den Kopf. »Du mußt völlig den Verstand verloren haben«, sagte sie. »Selbst wenn sie hier irgend etwas vergraben haben, was glaubst du, damit beweisen zu können, wenn du es wieder ausgräbst?«
Tobias hörte für einen Moment auf, das lockere Erdreich mit den Händen beiseite zu schaufeln. »Vielleicht alles«, antwortete er. »Sie haben nicht etwas vergraben. Sie haben jemanden vergraben. Einen Menschen.« Er schwieg einen Moment. »Und es ist wahrscheinlich nicht einmal der erste, nicht wahr?«
Katrin antwortete nicht.
»Sie töten Menschen«, fuhr Tobias fort. »Sie begnügen sich nicht damit, Schwarze Messen zu feiern, nicht wahr? Sie opfern Menschen. Habe ich recht?«
Katrin sagte nichts, aber ihr Schweigen war Antwort genug.
Tobias begann wie besessen, das klebrige, schwarze Erdreich beiseite zu schaufeln. Der bloße Gedanke, daß er recht haben könnte und sie tatsächlich Menschen - Menschen! -
opferten, trieb ihn schier in den Wahnsinn. Aber noch schlimmer wäre die Vorstellung gewesen, nicht nachzu-schauen, was sich unter diesem schwarzen, bleichen Tuch aus toter Erde verbarg.
Er mußte nicht sonderlich tief graben. Rasch stießen seine Finger auf Widerstand. Er ertastete schweren, nassen Stoff, dann etwas, das sich wie feuchtes Leder anfühlte, bis er voller Entsetzen begriff, daß es die Haut eines Menschen war.
Tobias erstarrte. Er hatte geahnt, was er finden würde, aber etwas zu ahnen und es dann zu sehen, das waren zwei 356
grundverschiedene Dinge. Tobias stöhnte wie unter Schmerzen, schloß die Augen und zwang sich dann unter Aufbie-tung aller Kräfte, die Lider wieder zu heben und das bleiche, im Tode erstarrte Gesicht anzusehen, das unter der feuchten Erde zum Vorschein gekommen war.
Er kannte das Gesicht.
Es war Greta. Die junge Frau, von der Bresser behauptet hatte, daß sie ganz bestimmt nicht aus Buchenfeld stammte, und die er am Fluß getroffen hatte, wo sie ihr Kind geboren und ertränkt hatte.
Und sie war keines natürlichen Todes gestorben. Schräg über ihrer Stirn verlief eine klaffende Wunde. Ihr Gesicht war mit Blut und Erdreich bedeckt, und in ihren verdreckten und doch offenen Augen stand ein Entsetzen, das die Qualen verriet, die sie in den letzten Momenten ihres Lebens erlitten haben mußte.
»O mein Gott«, flüsterte er mit schwankender Stimme und machte unwillkürlich ein Kreuzzeichen. »Wer . . . wer hat das getan?«
»Sie werden auch uns umbringen, wenn wir noch lange hier herumstehen, du Narr«, antwortete Katrin.
Tobias sah auf. War das wirklich nur Angst in ihrer Stimme? Galt der Zorn in ihren Worten wirklich nur dem Umstand, daß er kostbare Zeit verschwendete, Zeit, die vielleicht über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden mochte?
Oder -
Pater Tobias kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu verfolgen, denn plötzlich schien alles gleichzeitig zu geschehen: Er sah eine rasend schnelle, schattenhafte Bewegung aus den Augenwinkeln, hörte Katrin aufschreien, vernahm einen einzelnen, schweren, stampfenden Schritt, sah, wie Katrin herumfuhr und
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