Wolfsbrut
schrecklichen Gefahr, die dort auf sie gewartet hatte, dieselbe, die die zerfetzten, blutigen Leichen auf dem Gewissen hatte, die zertrümmerten Knochen und Schädel.
Sie preßte eine Hand auf den Mund und zwang sich, nicht zu schreien, dem Entsetzen nicht völlig zu erliegen.
Wilson rutschte über den Sitz, als hätte er nur darauf gewartet. Er nahm sie in die Arme; ihr Körper zitterte an seinen breiten Schultern. Sie drückte das Gesicht in den warmen, heimeligen Geruch seines uralten weißen Hemdes und spürte wie in weiter Ferne, wie er ihr Haar, das Ohr, den Hals küßte, sie spürte Wogen der Überraschung und Behaglichkeit, die die Panik verdrängten. Sie wollte von ihm weg, aber sie wollte auch das, was sie tat, nämlich das Gesicht heben. Er küßte sie ungestüm, und sie ließ es zu, anfangs passiv, dann ergab sie sich der Erleichterung und erwiderte den Kuß.
Dann wichen sie voneinander, weil ihnen die Tatsache bewußt wurde, daß sie in einem Auto saßen, das jeder Polizist kannte. Becky legte die Hände ans Lenkrad. Sie fühlte sich elend und traurig, als hätte sie soeben etwas verloren.
»Ich wollte das aus meinem System haben«, sagte Wilson knurrend. »Ich war...« Dann verstummte er. Er stützte die Arme aufs Armaturenbrett und preßte den Kopf dagegen. »Oh, verdammt, ich liebe dich, verflucht.« Sie wollte etwas sagen. »Nein, sag es nicht. Ich weiß, was du sagen willst. Ich wollte es dich nur wissen lassen, belassen wir es dabei. Wir werden weitermachen wie bisher. Liebe, die nicht erwidert wird, bringt mich nicht um.«
Sie sah ihn an und war erstaunt, daß er etwas so Ungewöhnliches sagen konnte. Sie hatte sich immer gefragt, ob er sie liebte. Sie liebte ihn in gewisser Weise. Aber das war nicht wichtig, es war schon vor langer Zeit akzeptiert worden. Und ihre Beziehung war etabliert. Es sollte sich jetzt nicht einmischen. Als er ihr das Gesicht zuwandte, sah er erschrocken drein. Sie wußte, ihr Rouge mußte unter Tränen verlaufen, sie wußte, ihr Gesicht mußte angstverzerrt sein. »Was ist mit mir geschehen?« fragte sie. Ihre Stimme war nicht ihre eigene, sie war von Gefühlen verzerrt. »Was hat sich da drin abgespielt?«
»Ich weiß nicht, Becky. Aber ich denke, wir sollten es besser herausfinden.«
Sie lachte. »Das kann man wohl sagen! Ich weiß nur nicht, ob ich damit fertig werde. Wir haben hier wirklich Probleme.«
»Ja. Eines davon bist du. Ich meine das nicht böse, aber ich muß meine Kardinalsregel heute einmal brechen. Rutsch rüber, ich fahre.«
Sie verbarg ihr Erstaunen. Dies war das allererste Mal in all den Jahren, seit sie zusammenarbeiteten. »Ich muß ja völlig durchgedreht sein«, sagte sie, während sie in Wilsons Sitz sank. »Das ist ja ein Hammer.«
»Es ist überhaupt kein Hammer. Du bist am Ende. Aber du solltest es dir nicht so sehr zu Herzen nehmen, weißt du. Ich meine, du warst nicht in Gefahr. Ich war es.«
»Du! Ich wurde die Treppe hinaufgelockt.«
»Um dich von mir zu trennen.«
»Warum sagst du so etwas? Du bist ein Mann, viel schwerer als ich und nicht das logische Opfer.«
»Ich habe Geräusche auf der Treppe am anderen Ende des Flurs gehört. Atemlaute, als würde etwas Hungriges über seinem Freßnapf sabbern.« Sein Tonfall machte ihr Angst. Sie lachte nervös als Selbstschutz, aber das Geräusch verstummte so plötzlich, daß Wilson sichtlich erschrocken war. Er sah sie aus dem Augenwinkel an, fuhr aber weiter.
»Tut mir leid. Es ist nur so, daß ich mir dich zu allerletzt als eines ihrer Opfer vorstellen kann.«
»Warum?«
»Nun, schließlich verspeisen sie sie, nicht? Geht es nicht darum? Alle, die sie angegriffen haben, wurden aufgefressen.«
»Alte Männer, Junkies, zwei Polizisten an einem verdammt einsamen Ort. Die Schwachen und Isolierten. Ich erfüllte in diesem Haus zwei Kriterien - alter Mann, von allen isoliert, abgesehen von dir. Und sie hätten dich um ein Haar nach oben gelockt. Warst du jemals jagen?«
»Nein, nie. Kann ich nicht ausstehen.«
»Als Junge war ich mit meinem Vater auf der Jagd. Wir jagten im Norden Elche. Manchmal suchten wir tagelang. Eines Sommers suchten wir eine Woche lang. Und schließlich fanden wir unseren Elch, einen großen alten Bullen, der eine unregelmäßige Spur hinter sich zurückließ. Ein verwundeter Bulle. Schwach, bereit zu sterben. Das werde ich nie vergessen. Wir waren gerade bereit zu schießen, als überall um uns herum Wölfe aus den Schatten schlichen. Sie liefen an uns
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