Wolfsbrut
da war der Ursprung einer weiteren Legende, der der Vampire. Das mußte die Sprache sein, die sie benützt hatten, um mit den Werwölfen zu kommunizieren. Die Vampire, die den Wölfen gefolgt waren und von deren Abfällen gelebt hatten. Und die Wölfe hatten sie gebraucht, um Menschen aus ihren verriegelten Häusern zu locken.
Was für eine andere Welt war das gewesen! Werwölfe und Vampire, die die Nacht unsicher machten; Vampire lockten Menschen aus den Häusern, damit sie verschlungen wurden. Kein Wunder, war das Mittelalter eine so dunkle und grausame Zeit gewesen. Die Schrecken der Nacht waren keineswegs imaginärer Natur gewesen, sondern schreckliche Wirklichkeit, der sich jeder von Geburt an gegenübergesehen hatte. Erst als die menschliche Bevölkerung explodiert war, schien die Bedrohung geringer zu werden. Die Menschen wurden so zahlreich, daß das Tun der Werwölfe nicht mehr auffiel. Zur Zeit von de Chauvincourt mußten die menschlichen Helfer bereits in den meisten Fällen überflüssig gewesen sein; daher wandten sich die Werwölfe gegen ihn, sobald der Vampir altersschwach geworden war. Die Bibliothekarin blätterte die Seite um.
Ferguson sprang auf. Er wollte sich beherrschen, wich aber unwillkürlich einen Schritt zurück und warf dabei den Stuhl um.
»Sir!«
»I-ich bitte um Entschuldigung!« Er packte den Stuhl und stellte ihn wieder hin. Er kam sich wie ein Narr vor. Aber der Stich über beide Seiten hinweg war so gräßlich, daß er ihn kaum ansehen konnte.
Er sah den Werwolf aus der Nähe, von Angesicht zu Angesicht. Dies mußte eine zutreffende Wiedergabe der Züge sein. Man konnte selbst auf diesem dreihundertundachtzig Jahre alten Stich die Wildheit, die schiere Bösartigkeit der Bestie sehen. Die Augen sahen ihn wie etwas aus einem Alptraum an.
Und sie waren ein Alptraum. Sein Verstand raste, als er sich an einen Vorfall erinnerte, der sich zugetragen hatte, als er nicht älter als sechs oder sieben gewesen war. Sie waren in den Catskills, weil sie den Sommer in der Nähe von New Paltz im Staate New York verbrachten. Er schlief in seinem Zimmer im Erdgeschoß. Etwas weckte ihn. Mondlicht schien zum offenen Fenster herein. Und ein monströses Tier beugte sich herein und richtete die Schnauze auf ihn; sein Gesicht war im Mondschein deutlich zu sehen.
Er hatte geschrien, und das Ding war schnell wie der Blitz verschwunden. Alptraum, hatten sie gesagt. Aber da war es wieder und starrte ihn an, das Gesicht des Werwolfs.
Die Bibliothekarin klappte das Buch zu. »Das dürfte genügen«, sagte sie. »Ich glaube, Sie sind völlig durcheinander.«
»Diese Stiche...«
»Sind sind gräßlich, aber ich glaube nicht, daß Hysterie angebracht ist.«
Das erstaunte Ferguson. Wie konnte sie es wagen, ihn derart anzugreifen. »Was würden Sie sagen, Madam, wenn diese Stiche lebende Tiere darstellen würden?«
»Es sind Werwölfe, Mr. Ferguson.«
»Und ich versichere Ihnen, diese Tiere sind sehr real. Sie können sich meinen Schock vorstellen, als ich Stiche von ihnen in einem so alten Buch fand, wo sie doch angeblich erst vor ein paar Wochen entdeckt worden sind.«
Er ließ sie stehen; sollte sie ruhig darüber nachdenken. Zu schade, sie war hübsch, er hätte sie gerne näher kennengelernt. Aber nicht jetzt. Er ging zur Garderobe im Keller und holte seinen Mantel. Draußen hatte es aufgehört zu schneien, die Fußgänger hatten den Schnee auf den Gehwegen in grauen Matsch verwandelt. Er schlug den Kragen wegen des heftigen Windes hoch und ging in Richtung Sixth Avenue. Er wollte zu Tom Rilker, damit der ihm half, ein logisches Versteck der Kreaturen hier in der Stadt zu finden. Es mußte ein Gegend geben, wo sich viele Obdachlose trafen. Nicht Bowery, das wurde von dicht bevölkerten Vierteln umgeben. Rilker würde etwas wissen.
Dann blieb er stehen. »Mein Gott«, dachte er, »diese beiden Polizisten hatten gar nicht so unrecht; was ist, wenn die verdammten Biester mich auch jagen?« Hatten sie ihn vergangene Nacht mit den Polizisten gesehen? Schwer zu sagen. Aber wenn sie den Zusammenhang hergestellt hatten, konnte er jetzt und hier, mitten auf der Zweiundvierzigsten Straße, in tödlicher Gefahr schweben.
Er steckte die Hände in die Taschen und schritt schneller aus. Und er dachte an das mondbeschienene Alptraumgesicht am Fenster.
Dick Neff ging nackt in die Küche, um sich noch einen Drink zu holen. Er sah auf die Küchenuhr - fast Mittag. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Küchenfenster
Weitere Kostenlose Bücher