Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
bärenartigen, tollpatschigen Welpen bereits von der ersten Sekunde an erlegen. Zwar hatte sich aus diesem unwiderstehlichen Wollknäuel innerhalb des letzten Dreivierteljahres ein ausgewachsenes, stattliches Hundewesen entwickelt, aber das tat der innigen Beziehung zwischen den beiden keinerlei Abbruch. Eher war das Gegenteil der Fall. Was natürlich auch auf Kurts Verhalten zurückzuführen war, denn er erkor den Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission sehr schnell zu seiner zentralen menschlichen Bezugsperson.
Tannenberg wurde es immer ganz warm ums Herz, wenn ihm Kurt, wie just in diesem Moment, mit seinen dunklen Augen leise brummend entgegenblickte. Aber da er wusste, dass ein Hund zu seinem eigenen Wohl zwangsläufig erzogen werden musste, führte er sich deshalb regelmäßig einige diesbezügliche Ratgeber zu Gemüte. Und allgemeiner Tenor dieser Erziehungshilfen war nun mal eben, dass man den Vierbeiner ab und an mit Vehemenz in seine Schranken weisen sollte.
Ein solcher Anlass war nun gekommen, zumal Tannenberg immer noch Hunger hatte und deshalb umgehend sein Mittagsmahl fortzusetzen gedachte. Also riss er seine Augen aus der schwarzen Maske des Mischlingshundes und forderte ihn mit dem lautstark und energisch vorgetragenen Kommando ›Platz‹ auf, sich umgehend abzulegen.
Wie immer kam Kurt dem Befehl nicht sofort nach, sondern stellte sich sicherheitshalber erst einmal taub. Tannenberg nahm unter gleichzeitiger, mehrmaliger Wiederholung des Kommandos seinen rechten Arm zur Hilfe, schob den störrischen, schweren Hundekopf von seinem Oberschenkel und drückte ihn nach unten zum Fußboden hin. Kurt ließ diese Maßnahme zwar geduldig über sich ergehen, setzte ihr jedoch gemessenen Widerstand entgegen, so dass Wolfram Tannenberg gezwungen war, sich zu ihm hinunterzubeugen.
Er hatte gerade sein Ziel erreicht, als er plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufschrie: »Au, au, au, tut das weh.« Reflexartig entfernte er seine Hand von Kurts Kopf und legte sie auf seinen rechten unteren Rückenbereich.
Margot Tannenberg erhob sich sogleich von ihrem Stuhl, während ihr Ehegatte anscheinend keinen Grund sah, ihr nachzueifern. Er warf lediglich einen emotionslosen Blick hinüber zu seinem jüngsten Sohn. Dann setzte er unbeeindruckt die Einnahme seines Mittagessens fort.
»Oh Gott, was ist denn, Wolfi? Was hast du denn?«
»Was wird er wohl haben, der alte Jammerlappen: einen kleinen Hexenschuss! Das sieht doch jedes Kind.«
Tannenberg konnte nicht auf die provokative Bemerkung seines Vaters reagieren. Er war völlig auf die höllischen Schmerzen fixiert, die aus seiner Lendenregion kommend bis in die Fußspitzen hinein ausstrahlten. Ächzend versuchte er seinen total verkrampften und grotesk zur Seite gekrümmten Oberkörper aufzurichten. Aber erst mit Hilfe seiner Mutter, die sich inzwischen hinter ihn gestellt hatte und vorsichtig an ihm zog, gelang es ihm.
Als er wieder einigermaßen aufrecht am Tisch saß, musste er jedoch feststellen, dass die barbarischen Schmerzen unvermindert fortdauerten.
»Wolfi, du musst sofort zum Arzt und dir eine Spritze geben lassen«, forderte die Seniorin. »Ich ruf Heiner an, der soll dich gleich hinfahren.«
Mühsam schleppte sich Tannenberg zum Sharan seines Bruders. Er hatte kaum darin Platz genommen, schon schickte sich Heiner an, ihn rücksichtslos mit seinen jüngsten schriftstellerischen Ergüssen zu belästigen.
»Du, Wolf, Zufälle gibts«, begann er kopfschüttelnd. »Ich arbeite gerade an einem neuen lyrischen Zyklus, der inhaltlich genau zu deiner Situation passt. Darf ich dir die ersten beiden Strophen an der nächsten Ampel mal vortragen?«
Natürlich handelte es sich bei dieser Frage um eine rein rhetorische, erwartete Heiner von seinem arg malträtierten Bruder doch keinerlei ernstzunehmende Gegenwehr.
Heiner Tannenberg hatte vor einem knappen Jahr mit einem schmalen Lyrik-Bändchen debütiert, dessen Inhalt der Autor als ›Kriminalpoesie‹ bezeichnete und das ihm neben einer vernichtenden Zeitungskritik noch überaus abschätzige Bemerkungen von Seiten seiner Lehrerkollegen eingebracht hatte. Aber von dieser negativen Resonanz hatte er sich nicht sonderlich beeindrucken lassen, sondern er bastelte weiter trotzig an seiner jungen Schriftstellerkarriere.
Als die beiden Tannenberg-Brüder die Ampel an der Marienkirche erreichten, sprang sie gerade auf Rot.
»Komm, jetzt lass dich mal nicht so hängen und hör mir mal zu!«, forderte Heiner.
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