Wolfsfieber
fasste seine Schulter mit beiden Händen und zog
seinen Körper zu mir. Mit einer fließenden Bewegung lan-
dete sein Rücken auf der Branddecke. Ich schloss für eine
Sekunde die Augen und atmete laut aus. Ich konnte es noch
nicht über mich bringen, ihm ins Gesicht zu sehen. Ohne
allzu genau hinzublicken, breitete ich die blaue Decke aus
meinem Wagen über seinem Körper aus. Bevor ich ihm ins
Gesicht sah, untersuchte ich seine Hüfte. Er schien keinen
Bruch zu haben, soweit ich das beurteilen konnte. Aber eine
Wunde war deutlich zu sehen. Meine Mutter war Kranken-
schwester, deshalb befand sich immer eine Flasche mit Des-
infektionsmittel in unseren Erste-Hilfe-Kästen. Dafür war
ich jetzt sehr dankbar. Ich nahm mir eine der Kompressen,
riss die Verpackung mit den Zähnen auf, beträufelte sie mit
der Desinfektionslösung und legte sie auf die rote Stelle an
seiner Hüfte. Ein paar Streifen Pflaster brachte ich an den
Seiten zur Fixierung an. Was nun? Ach ja, ich sollte mir den
Oberkörper noch ansehen, erinnerte ich mich.
Ich beugte mich über ihn und sah deutliche Prellungen
über seinen linken Rippen. Sie mussten angeknackst oder
13
gebrochen sein. Seine Hände und Arme waren voller Ab-
schürfungen, Blut und Kies von der Fahrbahn. Er musste
den Aufprall mit den Händen abgefedert haben. Ich konnte
es nicht länger hinauszögern. Schuldgefühle hin oder her.
Ich musste diesem Mann ins Gesicht sehen, so weh es auch
tat zu wissen, wem ich das angetan hatte.
Ich hatte keine Wahl.
Unsicher wandte ich meinen Blick von seiner Brust ab
und seinem Gesicht zu. Ich erkannte ihn sofort, obwohl ich
diesen Mann erst ein einziges Mal in meinem Leben gesehen
hatte. Doch ihn hätte ich immer wiedererkannt. Dieser lang
gezogene Brauenbogen, die hohen slawischen Wangenkno-
chen, das markante Kinn mit dem Dreitagebart und dieser
zarte, gerade Nasenrücken. Ich hatte keinen Fremden ange-
fahren. Es war der neue Mann im Dorf. Der junge Bibliothe-
kar, der erst vor zwei Wochen nach St. Hodas gezogen war.
Ich kannte ihn eigentlich nicht. Ich hatte nur kurz für die
Bibliotheksstory mit ihm gesprochen, auch wenn mir dieses
Gespräch noch ganz klar im Gedächtnis war. Wieso musste
es ausgerechnet er sein? Wieso musste ich ausgerechnet die-
sen jungen Mann verletzen? Wieso musste mein Unfallopfer
Istvan sein? Wieso musste das hier passieren?
Es traf mich wie ein Blitz. Ich hatte noch immer keinen
Notarzt gerufen. Jetzt stieg die Panik erneut wie ein saurer
Schwall in mir hoch. Wie konnte ich das nur vergessen, wie
konnte ich mich von seinen Gesichtszügen so ablenken las-
sen, dass ich sogar vergaß, ihm die nötige Hilfe zu besorgen?
Ich kramte hektisch in meiner Tasche nach meinem Handy.
Ich hielt es in der rechten Hand und versuchte es mit der
linken, vor dem Regen zu schützen. Ich tippte hektisch die
Notrufnummer ein und presste das Handy an mein Ohr. Mit
angehaltenem Atem lauschte ich dem Wählton.
Plötzlich, völlig aus dem Nichts, umfasste eine blutver-
schmierte Hand meinen Arm und flehte: „Auflegen. Bitte!“
Ich gehorchte automatisch der hypnotischen Stimme, als
hätte ich gar keine Wahl. Er war nicht länger bewusstlos,
14
doch er lag noch immer auf der Straße, in meine Decke ge-
hüllt. Ich dachte, er hätte einen Schock, und überlegte mir
ein paar beruhigende Worte: „Keine Sorge, du wirst wieder.
Es tut mir so leid, ich habe dich angefahren. Es tut mir so
leid, aber ich besorge dir sofort Hilfe. Versprochen. Ich muss
nur kurz einen Notruf machen.“ Er schien mir aufmerksam
zuzuhören.
Sein Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Schmerzen.
Er schien völlig ruhig zu sein. Ich konnte es mir nur so erklä-
ren, dass er noch an posttraumatischem Schock litt und des-
halb noch keine Schmerzen fühlte. Ich drückte erneut die
Wähltaste meines Handys. Wieder zog er an meinem Arm.
„Kein Notarzt. Bitte ruf niemanden an. Bitte. Ich brauche
deine Hilfe!“, beschwor er mich erneut, wobei mich seine
grünen Augen bedeutungsvoll anfunkelten. Wieso wollte er
keine Hilfe? Hier kam um diese Zeit sobald kein Auto vorbei
und er musste doch zu einem Arzt. Was war bloß mit ihm?
Hatte er sich etwa den Schädel angeschlagen?
„Ich versuche ja zu helfen. Ich weiß nicht, wie ich dich
richtig versorgen kann. Es tut mir so leid. Ich muss dir doch
einen Arzt besorgen“, redete ich auf ihn ein.
„Joe!“, sprach er mich mit fester Stimme und
Weitere Kostenlose Bücher