Wolfsfieber - Band 2
hatte. Damit hatte keiner von uns gerechnet. Ich dachte zuerst, Istvan würde zögern, aber ganz wie ein liebender Sohn stürzte er sich in die Arme der schmachtenden Mutter. Sie war es nicht wirklich, konnte es gar nicht sein. Aber das machte die Illusion nicht weniger wertvoll für ihn. Eigentlich hätte ich mich jetzt gerne zurückgezogen und ihnen ein ungestörtes Wiedersehen gegönnt, doch ich durfte ja nicht von seiner Seite weichen. Und Istvan wollte das auch gar nicht. Unerwartet zog er mich an sich, an seine Seite und stellte mich seiner Mutter gegenüber. Ich fühlte mich zuerst unbehaglich, als sie mich so eingehend ansah, als hätte sie durch diese eine Umarmung alle erfahren, was ich ihm und er mir bedeutete. Vielleicht war es genau deshalb, weshalb sie mich jetzt sanft umarmte. Ich fühlte ein Meer von Geborgenheit aufwallen. Wie überwältigend und gut musste dieser Gefühlsrausch erst für Istvan gewesen sein? Sie ließ mich los und sah ihren Sohn besorgt an, dann sagte sie, ebenso in einer merkwürdigen Gedankenstimme, die aber nicht wie die Istvans in meinem Kopf war, sondern vielmehr von überall zu kommen schien, wie der Wind in einem Sturm von allen Seiten bläst:
„Ich weiß, was du jetzt bist, mein Sohn. Ich gebe dir keine Schuld daran, hörst du, Istvan? Du hast genauso wenig Schuld an deinem Weg, wie ich an meinem. Es tut mir auch nicht leid, was passiert ist. Denn ich habe nie bereut, dass ich dich hatte. Niemals. Egal, wie es dazu gekommen ist.“ Als Istvan eine Träne ins Auge trat und er den Blick senkte, wussten wir beide, ich und die Ahnenvision, dass er es nicht nur hören, sondern verstehen musste. So nahm Maria die Hand ihres Sohnes und legte sie in meine. „Ich liebe dich, mein Sohn, aber ich bin nur eine Erinnerung. Du hast schon alles, was du brauchst“, sagte sie mit einem sanften Lächeln, das uns beiden galt. Dann verschwand sie ebenso schnell, wie sie gekommen war. Maria löste sich auf, wie Staub sich in der Luft verliert. Istvan schien mir immer noch tief bewegt, als er reglos dastand, nur meine Hand haltend. Um den Abschiedsschmerz wenigstens etwas erträglich zu machen, umarmte ich ihn fest. Es war, als würde ich keinen Körper, sondern eine warme, feste Flamme umfassen, die aber nicht verbrannte, sondern heilte. „Ich komme damit klar. Ich bin dankbar“, ließen mich seine Gedanken wissen.
Bevor ich bemerken konnte, was vor sich ging, wurde uns der Boden unter den Füßen förmlich weggezogen und durch einen ganz anderen, nicht waldartigen Untergrund ersetzt. Wir standen nun auf einem weißen Teppich. Als ich hochsah, blickte ich in einen dunklen, vom Schneegestöber verhangenen Himmel. Doch erst, als wir uns beide umsahen, erkannten wir, dass es kein Wald mehr war, der uns umgab. Es war eine Stadt. Eine triste, verwinkelte Gasse in einer Stadt. Ich glaubte, etwas Wienerisches zu erkennen, konnte aber nicht genau sagen, was. Ich sah es zuerst. Eine abgewrackte Bar in diesem wenig beschaulichen Teil von Wien, aus der junge Männer in altmodischen Jeans und Jacken mit aufgekrempelten Ärmeln kamen. „Nein, nein, nein. Nicht das!“, flehte Istvans Seele. Aber der Traum kannte kein Pardon. Er würde sich selbst gleich sehen müssen, im Winter 1988, als er in eine schlimme Prügelei geraten war. Ich konnte deutlich fühlen, wie sich sein ganzes Wesen anspannte und einfach nur aus der Haut fahren wollte. In Istvan tobte der Fluchtinstinkt, vor dem ich ihn warnen musste, denn sonst wären wir beide verloren. Ich umklammerte seine Mitte, um ihn auf seinen Platz zu zwingen, während mein Blick entschuldigend um sein Verständnis flehte. Unser gedanklicher Zwist wurde unterbrochen, als die Tür zur Bar mit einem Knall aufflog. Ich sah Istvan, nur mit Hose und Winterpullover bekleidet, auf die Straße stürmen. Sein Anblick war fürchterlich. Es war der Gesichtsausdruck eines gehetzten Tieres, das in die Ecke gedrängt worden war. Mein Istvan verkrampfte sich immer mehr in meinem festen Griff. Es war auch alles andere als leicht, das mitansehen zu müssen, weil ich leider schon wusste, was auf uns beide zukommen würde. Ich erinnerte mich noch allzu deutlich an die Farkas-Version dieser Ereignisse. Nun würde ich gleich sehen, wie es tatsächlich gewesen war. Wie es dazu hatte kommen können, dass Istvan jemandem das Leben genommen hatte und wie sein Problem, das Wolf-im-Mann-Phänomen, ausgelöst worden war.
Nur Sekunden später, Istvan war schon ganz mit dicken
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