Wolfsfieber - Band 2
oder körperlich spüren konnte, sondern weil ich den harten, realen Schmerz in seinem Inneren mit ihm teilen musste. Eine weitere Gesetzmäßigkeit der Traumreise. So heulten wir uns lange und elend miteinander aus, ohne zu wissen, warum er, warum wir das alles sehen und durchmachen mussten. Doch dann fiel mir etwas ein. „Istvan“, ich holte ihn mit seinem Namen aus seiner endlosen Trauer. „Der Auslöser! Er hat dich Missgeburt genannt. Er hat dich an deiner empfindlichsten Stelle getroffen. Wenn du dich damals schon angenommen und nicht selbst als Missgeburt betrachtet hättest, dann wäre nichts von dem passiert. Verstehst du? Deshalb hat dir der Traum diesen Moment deines Lebens gezeigt. Es dient dem Ziel und der Botschaft deiner Mutter.“ Ich sah ihn eindringlich an, damit er mich verstand. „Bitte, versteh doch“, flehte ich. Er nickte mit tränennassen Augen, obwohl seine Tränen, als ich sie mit meinem Daumen wegwischen wollte, sich gar nicht wirklich nass anfühlten. Er hatte sich genug beruhigt, um sich etwas aufzurappeln. Ich hoffte inständig, dass er nicht noch etwas Schlimmeres zu sehen bekommen würde. Um seinetwillen, weil ich nicht wusste, wie viel mehr er noch ertragen konnte. Mir ging es auch an die Nieren. Doch ich sollte bitter enttäuscht werden. Schon die ersten Eindrücke des nächsten Traumes machten mir das klar. Ein von Ulmen umrandeter Teich. Der Teich in St. Hodas, an dem der schlimmste Tag in meinem Leben stattgefunden hatte. Der schmerzvollste Moment in Istvan Leben. Der Tag, an dem ich fast gestorben war, an dem er mich fast getötet hätte und der uns fast auseinander gebracht hätte. Jetzt waren wir beide es, die in Gedanken flehten: „Nein. Nein. Nein.“
Aber es musste sein. Der Traum kannte keine Gnade. Plötzlich fühlte ich Istvan nicht mehr an meiner Seite. Er war verschwunden. War er geflohen? Hatte ich ihn verloren? Ich bekam furchtbare Panik. Ich schrie seinen Namen so laut, wenn ich eine reale Stimme benutzt hätte, hätte sie Glas zum Zerspringen gebracht. Immer wieder erhob ich meine merkwürdig tonlose Stimme zum Himmel und schrie Istvan , als könne ihn meine Stimme zurückbringen. Es war das Einzige, was ich tun konnte. Ich spürte, dass er nahe war, aber sich verängstigt versteckte. Am Ende des Teiches entdeckte ich einen zu großen, ausgehöhlten Stein, der hier nicht hergehörte. Darin fand ich ihn. Aber nicht den Mann, den ich liebte. Sondern das Kind in diesem Manne. Ein kleiner, verängstigter, grünäugiger Junge drückte sich an die Felswand. Seine Knie und Beine waren winzig und seine kleinen Hände zu Fäusten geballt. Ängstlich zog er sich sogar vor mir zurück. Ich fuhr zärtlich mit der Hand über seine weichen, sandfarbenen Haare. „Vertrau mir!“, sagte ich ihm. „Ich bin da. Zusammen können wir das durchstehen. Wenn ich es ertragen kann, kannst du es auch. Denk daran, weshalb wir das hier machen! Sei wieder der Mann, den ich liebe! Willst du das für mich tun?“, fragte ich den kleinen Jungen mit den wissenden Augen. Er nahm meine Hand und kroch aus seinem Versteck. Schon währenddessen verwandelte sich seine Hand und wurde wieder zu den sanften Händen meines Istvan, der mir zögernd folgte, zu dem Ort unseres größten Schmerzes und seiner größten Angst und Schuld. Als wir am Fischerhäuschen ankamen, war die Katastrophe schon geschehen. Zu unserer Erleichterung war Farkas bereits weg. Wir fanden uns selbst, als Abbilder unserer vergangenen Erinnerung, in einer vollkommenen Starre. In dieser Vision unserer Vergangenheit hatte Istvan die Hände bereits um meinen Hals geschlungen und drückte zu, die leuchtend grünen Augen aufgerissen. Ich versuchte, mich gegen seinen Würgegriff zu wehren. Wir, in diesem Moment eingefroren, befanden uns dort, wo alles angefangen hatte. Der Traum hatte uns zu einem Wendepunkt in unser beider Leben gebracht. Meine Haare waren durcheinander und der erschrockene Ausdruck auf meinem Gesicht ließ mich vor mir selbst zurückweichen. Es war bizarr. Wir beide hatten eine Heidenangst, dass das Bild jederzeit weiterlaufen würde und wir dann alles sehen mussten. Doch in einem merkwürdigen Anfall von Selbstmitleid berührte ich mich selbst und hatte dabei sofort die Bilder im Kopf. Vertraute Bilder. Die Bilder, die ich als letzte Eindrücke einer Sterbenden erinnerte. Doch ich spürte, dass diese Bilder nicht für mich bestimmt waren. Ich führte seine zitternde, widerwillige Hand zu ihrer, meiner Schulter.
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