Wolfsfieber - Handeland, L: Wolfsfieber
Er könnte recht haben. Bloß dass ein tollwütiges Tier nicht vor Ruelle und mir weggelaufen wäre, nachdem es Charlie getötet hatte. Ein tollwütiges Tier hätte uns ebenfalls angegriffen.
Mit Tollwut kannte ich mich recht gut aus. Natürlich waren die infizierten Tiere bösartig und blutrünstig, gleichzeitig waren sie aber auch so gut wie tot. Falls in den Honey-Island-Sümpfen tatsächlich eine Tollwutepidemie ausgebrochen wäre, würde es wesentlich mehr Leichen geben. Sowohl menschliche als auch tierische.
Cantrel kletterte zurück ins Sumpfboot und setzte sich mit einem Selbstvertrauen auf den Fahrersitz, das verriet, dass er Erfahrung im Umgang damit hatte.
„Sie scheinen zu wissen, was Sie tun.“ Ich deutete auf das Gefährt.
„Ich fahre diese Dinger schon mein ganzes Leben lang.“
„Sie stammen aus der Gegend?“
„Ja, direkt von hier.“
„Dann kannten Sie Charlie also.“
„Ja.“ Er seufzte. „Netter Bursche.“
Wir verstummten beide und dachten an Charlie.
Cantrel nah m – mit einem Mal wieder ganz sachlic h – Haltung an. „Sie müssen sich ab jetzt vom Sumpf fernhalten, Ma’am. Ist zu gefährlich.“
„Diese Option habe ich leider nicht. Man hat mich engagiert, u m … “
Ich brach ab. Ich konnte ihm unmöglich sagen, dass ich nach einem loup-garou suchte. Cantrel würde mich ansonsten vielleicht einfach in eine Irrenanstalt verfrachten. So was gab es hier vermutlich immer noch.
„Engagiert wofür?“, hakte er nach.
„Recherchen“, antwortete ich, was der Wahrheit recht nahe kam und die Leute für gewöhnlich derart langweilte, dass sie aufhörten, Fragen zu stellen.
„Ich dachte, Sie wären Zoologin. Sollten Sie nicht eigentlic h … in einem Zoo sein?“ Er errötete. „Ich meine, in einem arbeiten?“
Ich hatte keine Lust, ihm zu erklären, was ich genau war. Also unterließ ich es.
„Ich arbeite hier.“
„Sie sollten sich von den Sümpfen fernhalten.“ErblicktezumHalbmondhoch,dersichlangsam über den Nachthimmel schob. „Zumindest für ein paar Tage.“
Noch bevor ich weiter in ihn dringen konnte, ließ er den Motor an und raste davon.
Ich war nun allein, und Stille umfing mich. Als ich aufs Wasser schaute, entdeckte ich mehrere auf- und abtanzende Augenpaare, in denen sich der Mond spiegelte, allerdings schien keines von ihnen daran interessiert zu sein, näher zu kommen.
Ich tätschelte mein Gris-Gris . Für einen abergläubischen Schutztalisman funktionierte es ziemlich gut. Trotzdem lief ich so schnell wie möglich zu meinem Wagen und fuhr zurück in die Stadt.
Auf der Bourbon Street herrschte Hochbetrieb. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Mitternacht . Warum bloß fühlte es sich so viel später an?
Ich war zwar nicht hungrig, aber ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und obwohl mein Körper es durchaus vertragen hätte, ein paar Kilo zu verlieren, war ich doch klug genug, nicht ganz auf Nahrung zu verzichten. In Ohnmacht zu fallen, reizte mich noch weniger, als Lycra zu tragen.
Ich ließ mich von der Menge über den vernarbten, geborstenen Gehsteig treiben, vorbei an den Bars, den Striplokalen, den Andenkenläden, die T-Shirts mit obszönen Aufdrucken feilboten, bis ich ein Restaurant entdeckte, das nicht allzu überfüllt war. Mit einem mächtigen Rempler befreite ich mich aus dem Menschenstrom und stolperte auf eine gepflasterte, mit Tischen bestückte Terrasse.
Ich wählte einen Tisch nahe an der Straße. Auch wenn ich mich nicht gern inmitten eines solchen Gedränges bewegte, genoss ich es durchaus, den Beobachter zu spielen. Obwohl die Nachtschwärmer auf der Bourbon Street laut und zum großen Teil betrunken waren, machte es Spaß, ihnen zuzusehen. Es waren heitere Menschen, die New Orleans besuchten, und die Einheimischen liebten sie.
Natürlich gab es Voodoo und Morde und irgendetwas in den Sümpfen, aber dies war auch die Stadt der großen Unbeschwertheit, und das aus gutem Grund. New Orleans war berühmt für seine großartige Musik, das gute Essen, nie versiegenden Alkohol und heißen Sex. Tagsüber kam die Fäulnis zum Vorschein, aber bei Nacht übertünchten die Neonlichter alles.
Ich bestellte einen Zombi e – warum nicht ? – und ein Po’boy-Sandwich. Erst als ich es schon zur Hälfte vertilgt und meinen Drink komplett geleert hatte, überfiel mich wieder dieses mittlerweile vertraute Gefühl, angestarrt zu werden. Allerdings gab es auf der Bourbon Street keine Alligatoren, es sei denn, man zählte
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