Wolfsfieber
ihm durchdringen konnte. Doch was könnte sie
zum Einsturz bringen? Welcher Schock war nötig, um ihn
aus seinem Gefängnis zu reißen?
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23. Verbindung und Distanz
Man sagt ja, das Universum sei ein kalter Ort. Ich hatte mir
darum nie besonders viele Gedanken gemacht. Aber nun, da
mein Universum ebenfalls dabei war zu erkalten, konnte ich
über nichts anderes mehr nachdenken. Wir, Istvan und ich,
waren wie der Urknall gewesen. Wie das Universum began-
nen wir heiß und dicht, nur um jetzt gefangen zu sein in Käl-
te und Dunkelheit, die sich mehr und mehr ausbreitete und
alles verschlang. Wie konnte es nur sein, dass ich neben dem
Mann mit der heißesten Hauttemperatur, die ich je gefühlt
hatte, lag, beinahe jede Nacht, und mir in meinem ganzen
Leben noch nie so kalt war?
Am Tag gelang es mir noch, immer so zu tun, als ob ich
mit der Situation einigermaßen klarkam. Doch nachts lagen
die Dinge ganz anders. Ich versuchte, nicht in mein Haus
zu gehen, weil er dort immer auf dem Sofa schlief. Er fand
unzählige Ausreden, um nicht mit mir hoch in mein Zimmer
kommen zu müssen. Es traf mich jedes Mal, wenn ich wie-
der mit Sicherheit wusste, dass er sich so weit wie möglich
von mir fernhalten würde, ohne dabei meinen Schutz außer
Acht zu lassen. Ich wollte das nicht. Ich hasste es. Deshalb
schlief ich meistens bei ihm. Aber dort war es noch schlim-
mer. Wir lagen in seinem Schlafzimmer wie zwei Fremde, die
gezwungen wurden, sich ein Bett zu teilen. Anfangs versuch-
te ich es noch. Ich blickte ihm ins Gesicht und hoffte, es
würde seine Mauer erweichen, ein paar Risse erzeugen. Aber
Istvan war stur, fest überzeugt von seiner Gefahr für mich.
Und er drehte mir jedes Mal den Rücken zu, um nicht doch
noch schwach zu werden oder in Versuchung zu kommen,
mich zu berühren. Immer wenn ich das Drehen seines Kör-
pers kommen fühlte, wandte ich mich ebenfalls von ihm ab.
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Ich konnte das dumpfe Krampfen meines Magens, ausgelöst
durch eine weitere Enttäuschung, nicht mehr ertragen.
Etwa eine Woche war auf diese Weise vergangen und
ich fühlte mich schon am Ende meiner Kräfte. Wir stritten
mittlerweile nicht einmal mehr. Keiner war bereit, auch nur
einen Zentimeter von seiner Überzeugung abzugehen. Aber
diese trügerische Ruhe war weit schlimmer als das schlimms-
te Streitgespräch.
Sie war hoffnungsloser, als hätte man sich schon damit ab-
gefunden, wäre schon dabei aufzugeben. Das verletzte mich
so tief im Innersten, dass ich es zum allerersten Mal in mei-
nem Leben kaum ertrug, Musik zu hören. Anfangs versuchte
ich, mich mit Johnny Cash zu trösten. Aber eigentlich zog
es mich noch tiefer runter und ich ließ es ganz. Jede Art von
Musik, jede Art von Poesie, einfach alles erinnerte mich an
uns, daran, wie es gewesen war und wie es jetzt nicht mehr
war. Ich ertrug nichts um mich herum. Selbst seine Nähe,
die ich ständig provozierte, schmerzte nur noch. Ich fühlte es
ganz deutlich. Unser Band war zum Zerreißen gespannt. Die
Frage war nur, wodurch und wann es endgültig auseinander-
reißen würde. Das Warten darauf war regelrecht unerträglich.
Ein zermürbender Countdown tickte. Unaufhaltsam.
An diesem trüben Tag waren wir in meinem Wohnzimmer.
Wir hatten noch immer März und ich war bereits spät dran
mit meinen Routineaufgaben. Ich war gerade dabei, missmu-
tig meine Monatsabrechnungen zu machen, während Istvan
auf der Couch lag und seine Übersetzungen überarbeitete.
Wir machten tatsächlich den Eindruck einer stillen Lern-
gruppe. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass wir
noch vor Kurzem ein leidenschaftliches Liebespaar gewesen
waren. An diesem späten Nachmittag überschlugen sich die
Ereignisse. Ich zählte gerade die Zeilen eines Artikels, als
ich bemerkte, dass Istvan vom Sofa hochschnellte und sein
Gesicht in meine Richtung fuhr. Ich war sofort in Alarm-
stimmung.
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„Was ist? Was hast du?“, fragte ich ihn erschrocken.
„Da kommt jemand. Ein Wagen ist gerade an der Kreu-
zung. Ich bin mir mit dem Herzschlag nicht sicher. Wer kann
das sein?“, wollte er von mir wissen und schien schon da-
durch genervt, dass ich mögliche Besucher hatte. Ich spähte
aus dem Fenster und erkannte sofort das Auto meines Bru-
ders. Der schwere Pick-up fuhr in meine Richtung. Viktor
saß selbst am Steuer.
„Mein Bruder. Ich erwarte ihn eigentlich nicht. Keine Ah-
nung, weshalb er kommt“, versuchte ich Istvan zu
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