Wolfsfieber
nicht, ich fühlte
es nicht.
„Ja, ich hab’s gehört. Würde es dich sehr schockieren,
wenn ich dir sage, dass es mir eigentlich egal ist?“, nuschelte
ich vor mich hin, müde und wehrlos.
„Natürlich. Wieso sollte es dir egal sein? Eine Bedrohung
weniger in deinem Leben. Du solltest erleichtert sein“, wun-
derte Istvan sich über meine unpassende Reaktion und sah
mich fassungslos an.
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„Na, wenn du meinst. Es fühlt sich nur nicht so an“, sagte
ich noch leise, bevor ich meinen müden Körper nach oben
schleppte und schlafen legte. Seit dem Zeitpunkt, als er mei-
ne ausgestreckte Hand verweigerte, hatte ich alles andere
nur noch durch einen dicken Schleier wahrgenommen, der
alle Empfindungen in mir dumpf und schal werden ließ.
Teilnahmslos betrachtete ich von da an meine Umgebung.
In dieser Nacht schlief ich unruhig, hatte jedoch keinen
Albtraum. Anders als sonst schlich ich mich dieses Mal nicht
nach draußen, um nach Istvan zu sehen. Ich betrachtete nicht
seinen schlafenden Körper auf dem Sofa wie sonst und ich ver-
suchte auch nicht, das Gefühl der Leere und der Einsamkeit
zu verdrängen. Ich ließ es zu, denn ich merkte, dass es mich
abstumpfte, und ich brauchte diese Gefühllosigkeit. Nur eine
Nacht lang würde ich mich in diesen Zustand hüllen. Nur
eine Nacht lang, nur um eine Nacht schlafen zu können.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er bereits
weg. Die Bibliothek musste geöffnet werden. Nachdem Vik-
tor mich gestern daran erinnert hatte, dass es ein Leben gab,
das es zu führen galt, erinnerte ich mich auch daran, dass
ich schon länger nicht mehr den Anrufbeantworter abgehört
hatte.
Ich frühstückte und machte mich fertig für einen weite-
ren trostlosen Tag, der vor mir lag. Dann ließ ich das Band
des Anrufbeantworters ablaufen. Ich hatte nur ein paar An-
rufe meiner Eltern versäumt, wie ich ja bereits wusste. Zwei
Werbefirmen wollten mich mit ihren Angeboten locken und
mein Bruder hatte mich einmal an die jährliche Inspektion
des Autos erinnert. Doch dann hörte ich eine Nachricht,
die mich hellhörig machte. Carlas Stimme verdrängte den
dumpfen Schleier, in den ich noch immer eingehüllt war.
„Joe, ich wollte dich nur an die Verlobungsparty am Frei-
tag erinnern. Du weißt ja, dass du schon um fünf kommen
sollst. Ich brauche dich für die Vorbereitungen und zur mo-
ralischen Unterstützung. Wir sehen uns dann um fünf beim
Italiener. Und Joe: Bitte denk an deine Rede, du hast es ver-
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sprochen. Sieh es einfach als gutes Training für nächstes
Jahr. Tschüss.“
Ich hatte es völlig verdrängt. Die Verlobungsparty mei-
ner besten Freundin war in drei Tagen und ich hatte weder
die Rede fertig, noch war ich in der emotionalen Verfassung,
eine solche Feier durchzustehen. Ich würde keine Rede
schreiben. Jede Ansprache, die ich jetzt schreiben würde,
wäre von verstörender Natur. Deshalb beschloss ich, meine
Worte erst auf der Feier zu improvisieren. Die Umgebung
und der Blick auf Carla und Christian würden es mir leich-
ter machen. Aber sollte ich Istvan überhaupt von der Verlo-
bungsfeier erzählen? Ich erinnerte mich noch genau an seine
Reaktion auf Christians Antrag. Bei unserer gegenwärtigen
Anspannung schien es mir alles andere als eine gute Idee zu
sein, ihn mit dieser Nachricht zu belasten. Ich würde ihm
am Freitag eine Nachricht hinterlassen. Schließlich muss-
te ich jetzt, da Farkas keine unmittelbare Bedrohung mehr
für mich darstellte, nicht mehr so vorsichtig sein. Ich konn-
te wieder tun und lassen, was ich wollte, ohne von einem
Body guard beschützt zu werden. Das hatte gute und ebenso
schlechte Seiten. Denn Istvan lieferte ich damit die perfekte
Ausrede, sich noch mehr von mir fernzuhalten.
In der Nacht vor Freitag schlief ich bei ihm. Ich wurde in
der Nacht unsanft aus meinem leichten Schlaf gerissen, als
ich Istvans unruhiges Stöhnen hörte. Er wand sich im Schlaf
und atmete schwer. Immer wieder murmelte er gequält und
aufgebracht etwas vor sich hin. Ich konnte aber nicht verste-
hen, was er sagte. Besorgt lag ich neben ihm und registrierte,
wie sein Albtraum immer schlimmer zu werden schien. Ich
konnte nicht länger an mich halten und begann ihn sanft zu
schütteln. Beinahe hatte ich schon vergessen, wie warm und
weich sich seine Schulter anfühlte. Ich begann kräftiger an
ihm zu rütteln.
„Istvan, wach auf!“, flüsterte ich mehrmals
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