Wolfsfieber
das dein Ernst? Fragst du mich das im Ernst?!“, schrie
ich ihn erbost an. Fast wären mir Zornestränen aus den Augen
gekommen, aber ich konnte noch rechtzeitig alles hinunter-
schlucken, bevor ich mich an ihm vorbei in mein Zimmer
drängte. Ich schlug die Tür hinter mir zu und stürzte mich
auf mein Bett. Mein Ausbruch war mir unendlich peinlich.
Aber ich war es leid, alles zu verdrängen, und die Fassade
entspannter Normalität, die ich meinem Bruder vorspielen
musste, förderte verdrängte Wut an den Tag, die ich nun an
ihm ausließ. Schon als mein Kopf auf dem Bett landete, be-
reute ich die Härte, mit der ich ihn angefahren hatte. Ich lag
eine ganze Weile auf meinem Bett und drückte meinen Kopf
in das Kissen, um alles um mich herum auszublenden. Als
ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, rief ich meine
Mutter Esther an. Ich spielte ihr dieselbe lahme Komödie
vor, die ich schon für Viktor abgespult hatte. Offenbar be-
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kam ich langsam Übung in der Lügerei, denn meine Mutter
schien mir die Vorstellung abzukaufen und ich versprach,
nicht mehr so lange Zeit zu brauchen, um mich zu melden.
Ich wollte ja nicht, dass sie sich auch noch Sorgen um mich
machten. Nichts sollte ihnen die Reise verderben und auf
keinen Fall durften sie auf die Idee kommen, früher nach
Hause zu kommen.
Erst als es Nacht war, wagte ich es, wieder nach unten
zu kommen. Istvan saß in der Küche. Er hatte Abendessen
für mich gemacht und wartete offensichtlich darauf, dass ich
kommen würde, um es zu vertilgen. Ich setzte mich still und
mit gesenktem Kopf zu ihm und begann, das belegte Brot zu
kauen, eher lieblos.
„Tut mir leid. Ich wollte dich wirklich nicht so anfahren.
Ich bin nur … Ich bin am Ende, Istvan“, gestand ich ihm. Ich
war es so leid, anderen etwas vorzumachen. Die Wahrheit zu
sagen, tat gut, trotz der bitteren, traurigen Botschaft, die aus
ihr sprach.
„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß genau, was
du meinst. Es ist, als wärst du schon ewig gelaufen und wärst
noch immer endlos weit von deinem Ziel entfernt“, murmelte
er vor sich hin. Er hatte damit genau ins Schwarze getroffen.
„Ja, genauso fühlt es sich an. Aber wenn es dir genau-
so geht, wieso hörst du dann nicht damit auf? Gib deinen
Widerstand endlich auf! Komm zu mir rüber, nimm mich in
den Arm“, flehte ich ihn an. Selbst meine Würde und Selbst-
achtung hielten mich jetzt nicht mehr zurück. Ich streckte
ihm meinen Arm entgegen. Er lag mit offener Handfläche
auf dem Holztisch. Mein verzweifelter Blick drängte sich in
seine grünen Augen.
„Joe, du weißt, dass ich es will. Ich möchte nichts lieber
tun, als meine Hand ausstrecken und sie in deine legen. Aber
es geht nicht darum, was ich will oder was ich noch alles er-
tragen kann. Ich muss jetzt das Richtige tun. Das Richtige
für dich“, flüsterte er und blickte traurig und verloren auf
meine Fingerspitzen, ohne sie zu berühren.
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Ich zog enttäuscht und verbittert meinen Arm zurück.
Eine weitere Zurückweisung, die die Kälte in mir erneut
hochkommen ließ.
Ich seufzte so laut, dass er es deutlich hörte. Er setzte
sich näher an mich heran. Schon glaubte, hoffte ich, er hätte
es sich anders überlegt. Aber so war es nicht. Er blickte mich
fest an.
„Joe, als du vorhin oben warst, hat sich Serafina gemeldet.
Es ist ein Wunder, aber sie hat gute Nachrichten. Ich hätte
dir schon längst davon erzählen sollen. Ich habe Serafina von
Farkas’ letzter Attacke erzählt. Da war sie schon auf dem Weg
nach Polen. Offenbar hat Woltan eine Bewegung im Rudel
beobachtet. Als Farkas wieder zu ihnen kam, machten sie
sich auf, das Lager abzubauen und weiterzuziehen. Serafina
und Woltan sind ihnen gefolgt. Sie haben ein neues Lager in
Weißrussland aufgeschlagen. Valentin hat die Zwillinge ab-
gestellt, um das Farkas-Rudel zu überwachen. Das Lager ist
sehr weit entfernt. Es ist unmöglich, dass sie bis zum nächs-
ten Vollmond kommende Woche angreifen können. Du bist
also vorerst sicher, zumindest vor ihm!“, erklärte er mir, wo-
bei er seine letzte Bemerkung fast verschluckt hätte.
Ich starrte gedankenverloren aus dem Fenster in die
dunkle Nacht.
„Joe, hörst du mir überhaupt zu? Hast du verstanden, was
ich dir gesagt habe?“, fragte er mich und ließ sich dabei et-
was zu mir rüber.
Ich sah ihn irritiert an. Sollte ich mich darüber freuen?
Fühlte ich mich erleichtert? Ich wusste es
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