Wolfsfieber
sahen uns von der Seite an. Es war
etwas kühler hier oben und der Wind wehte ständig, weshalb
meine Haare im Wind tanzten.
„Was wolltest du mir dann zeigen?“, fragte ich ihn und ver-
suchte dabei, meine Haarsträhnen unter Kontrolle zu halten.
„Du hast die Hügel der ungarischen Seite gesehen. Nun
sieh dir die andere Seite noch an“, schlug er mir als Antwort
vor.
Wir gingen zur gegenüberliegenden Seite. Von da aus konn-
te man Lockenburg sehen und dahinter bereits die Hügel der
Buckligen Welt. Ganz weit entfernt am Horizont meinte man
bereits die Rax und den Schneeberg zu erahnen.
„Man kann sehr weit sehen. Hätte ich nicht gedacht.
Aber ich verstehe immer noch nicht, was du …“ Er unter-
brach meinen leicht frustrierten Einwand.
„Was ich dir damit zeigen will, ist, dass das alles, alles was
du siehst und alles, was du auf der anderen Seite des Gebir-
ges kennst, zu meinem Stammrevier gehört. Als Wolf ist das
hier mein Territorium.“
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Er untermauerte seine Ausführung, indem sein Arm über
den ganzen Horizont fuhr.
„Aber zusammen mit der Südseite müsste das ja, keine
Ahnung, einen Radius von 10 oder 12 Kilometern abdecken“,
stellte ich erstaunt fest.
„Und das ist nur das Territorium, das ich markiere. Es
ist, selbst für einen einzelnen Wolf, ein kleines Revier. Ich
habe die Größe danach gewählt, wie viel ich in einer Nacht
zurücklegen kann und dabei noch rechtzeitig zu meinem Ba-
sislager zurückkomme, ehe der Morgen anbricht.“
Er hatte recht damit, dass ich beginnen würde, die Dinge
anders wahrzunehmen. Schien es mir eine schier unüber-
windliche Distanz zu sein, war es für ihn eher ein Katzen-
sprung. Die Dinge bekamen langsam deutlichere Konturen.
„Das ist unglaublich. Du musst sehr schnell sein. Wie
groß wäre dann erst das Revier eines ganzen Rudels?“
„Das kann bis zu 300 Kilometern ausmachen. Je nach
Rudelgröße“, erklärte er ganz sachlich, als wäre es gar nichts
Ungewöhnliches.
„Das machst du also in den Vollmondnächten. Du durch-
streifst als Wolf die Wälder des Günser Gebirges?“
„Ja, im Grunde schon. Ich versuche, nicht zu jagen und mei-
ne animalischen Instinkte so gut ich kann im Zaum zu halten.“
„Jagen, oh. Du erlegst also Beute, wenn du ein Werwolf
bist?“, fragte ich und bereute es sofort. Die Vorstellung jagte
mir Schauer über den Rücken.
„Ich versuche, es nicht zu tun. Aber es ist schwer, sei-
nen Trieben nicht nachzugehen, wenn man in der Wolfshaut
steckt. Es ist allerdings ein Vorteil, dass die Tiere spüren,
dass ich kein gewöhnlicher Wolf bin, und sich meistens von
mir fernhalten. Ein angeborener Schutzmechanismus, der
mir sehr gelegen kommt. Doch ab und an begegne ich einem
Hasen oder etwas anderem und jage ihn. Gegen diesen Im-
puls komme ich nicht an. Ich habe es versucht!“
Der angestrengte, traurige Ausdruck auf seinem Gesicht
verriet mir, dass er die Wahrheit sagte und dass er es hasste,
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dass ihn seine animalische Seite zwang, diese Dinge zu tun.
Ich wollte ihn sofort in den Arm nehmen, ließ es aber doch.
„Das alles tut mir so leid für dich.“
„Du bist gar nicht angeekelt oder böse deswegen?“, fragte
er verdutzt.
„Du hast er mir doch erklärt. Es ist reiner Instinkt. Dafür
kann ich dir nicht böse sein. Du kannst nicht mehr tun, als
dagegen anzugehen, und ich kann dir ansehen, wie sehr du
es versuchst“, erklärte ich ihm und legte ihm meine Hand
auf den Unterarm. Als Zeichen meines Verständnisses für
seine Zwangslage. Ich wollte ihn von seiner Selbstzermür-
bung abbringen und stellte schnell noch weitere Fragen.
„Wie stellst du es eigentlich an, nach einer Vollmond-
nacht unbemerkt nach Hause zu kommen? Ich meine, wie
machst du das mit deiner Kleidung?“
„Ach das. Ich habe zwei verschiedene Basislager einge-
richtet. Eines für die Nordseite, nahe dem Geschrieben-
stein. Es liegt in einem Waldstück, das sich ‚Wolftanz‘ nennt.
Das andere Lager ist näher an St. Hodas, für den Südhang
gedacht. Es ist im Wald beim St. Hodas’er Steinbruch. Etwa
einen Kilometer von deinem Haus entfernt.“
„Ja, ich weiß, wo das ist“, wandte ich erschrocken ein.
„Dachte ich mir. Ich deponiere Kleidung, Wasser und
Zelte bei jedem Lager, versteckt in einer Kiste, die ich in den
Boden eingegraben habe.“
Er sprach nun, mit dem Blick weit in die Ferne schweifend,
als wäre er kilometerweit weg und nicht dicht neben
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