Wolfsfieber
seine Besonderheiten zu verstehen?
Er parkte bei der ersten Gelegenheit und stieg so schnell
aus, dass ich ihn nicht mehr ansprechen konnte. Ich hatte
noch nicht mal meinen Kopf umgedreht, da öffnete er mir
bereits die Beifahrertür und wartete, bis ich ausgestiegen
war. Ich stieg aus und lehnte auf dem Fensterrahmen der
Beifahrertür. Ich beugte mich weit über den Metallrahmen
und blickte ihm direkt ins Gesicht. Mit flüsterndem Ton
fragte ich ihn:
„Was wollen wir denn hier? Was ist so besonders an die-
ser Aussichtswarte?“
Weshalb ich flüsterte, konnte ich mir nicht erklären.
Schließlich war niemand hier außer uns. Es war September
und deshalb nicht ungewöhnlich, dass fast keine Menschen
mehr auf den Wanderwegen unterwegs waren oder die Aus-
sichtsplattformen besuchten. Die Hauptsaison für Touristen
war bereits vorüber. Wir würden bestimmt nicht gestört wer-
den. Bei was auch immer.
„Ich möchte dir ein paar Dinge zeigen, die du vielleicht
schon kennst. Aber wenn du sie mit meinen Augen siehst,
werden sie eine andere Bedeutung bekommen“, erklärte er
mir kurz und seine Stimme hatte dabei einen klaren Klang.
Ich schloss die Wagentür und folgte ihm auf dem Kies-
parkplatz zum Anfang des kurzen Waldweges, der zum Mar-
garethenturm führte. Er ging vor und ich drehte mich nach
dem Auto auf dem verlassenen Parkplatz um, das so gar nicht
auf den grauen Kies passte.
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„Kommst du?“, ermahnte er mich und bemerkte mein Zö-
gern.
„Ja. Ich komme“, versicherte ich ihm und ging ihm nach.
Istvan stand am Anfang des Waldpfades, der von einem
Baldachin aus Birken und Buchen überdacht war. Von all die-
sen Farben des Waldes umgeben, stach das Grün seiner Au-
gen noch mehr hervor. Als ich kurz hinter ihm stand, wandte
er sich zum Trampelpfad um. Ich war erleichtert, nicht mehr
in diese hypnotischen Smaragd-Augen blicken zu müssen.
Der feuchte Waldgeruch und die Geräusche der Vögel wirk-
ten schon genug auf mich und machten mich schwindelig.
Da konnte ich nicht auch noch gegen die magnetische An-
ziehungskraft seines Blickes angehen. Das ganze kurze Stück
des Fußweges gingen wir mit gesenktem Blick zum Vorplatz
des Turms. Drei Bänke umrahmten den riesigen Holzturm
von allen Seiten und zeigten deutliche Spuren der Witte-
rung. Es war ein lauer Septemberabend, sehr hell und warm.
Deshalb hatte Istvan auf heute gewartet. Der Wetterbericht
hatte geringe Bewölkung und angenehm warme Temperatu-
ren versprochen. Perfekte Bedingungen für einen Rundum-
blick, den er mir offenbar zeigen wollte.
„Wollen wir?“, fragte er herausfordernd und trat mit einem
Fuß auf die kleine, hölzerne Vortreppe. Mein Blick schweifte
vom Fundament hinauf zur 31 m hoch gelegenen Plattform.
Es kam mir nun viel höher vor als in meiner Erinnerung.
„Ich gehe, wenn du gehst!“, antwortete ich auf seine He-
rausforderung und nahm sie damit an.
Zusammen erstiegen wir die insgesamt acht Treppen der
Margarethenwarte, wobei ich schon nach dem vierten Trep-
penabsatz schwer atmete. Istvan dagegen machte den Ein-
druck, einen vergnüglichen Spaziergang zu unternehmen. Er
stieg absichtlich langsamer hinauf, um an meiner Seite blei-
ben zu können. Ab und an begegneten sich unsere Blicke,
wobei jeder von uns diesen Kontakt sofort unterbrach und
schnell wieder wegsah. Schneller als ich dachte hatten wir
den Aufstieg geschafft und standen auf der rechten Seite der
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Aussichtsplattform. Vor mir erhoben sich auf einer Seehöhe
von über 500 Metern die reich bewaldeten Hügel des Gün-
ser Gebirges in den verschiedensten Braun und Grüntönen.
Ich blickte tief in die Waldgebiete der ungarischen Seite,
die nur vom blauen Horizont begrenzt wurden. Der Anblick
war atemberaubend. Ich starrte gebannt auf die Landschaft,
während Istvan, direkt neben mir auf die Brüstung gelehnt,
ebenso konzentriert auf mich blickte. Nach dem ersten Er-
staunen über den wunderschönen Ausblick bemerkte ich
sein Starren und riss mich von der Landschaft los.
„Es ist wunderschön hier. Ich kann gar nicht glauben,
dass ich bisher noch nie hier oben gewesen bin.“
„Es ist doch oft so, dass die schönsten Dinge im Leben
immer direkt vor uns liegen und wir sie nicht sehen, weil wir
nicht genau genug hinsehen. Aber ich habe dich nicht wegen
des schönen Ausblicks hierhergebracht“, stellte er klar.
Ich hörte ihm aufmerksam zu. Wir beide lehnten nun auf
der Holzbrüstung und
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