Wolfsfieber
verunsichern, wie er
es oft, zu oft, bei mir geschafft hatte. Doch einen kurzen Au-
genblick lang, nur den Bruchteil einer Sekunde, war ich da-
von überzeugt, er würde versuchen, mich zu umarmen. Aber
die kaum angedeutete Geste wurde von Istvan sofort in ein
Zurückweichen vor mir umgewandelt. Er wandte sich von
mir ab, ohne auch nur ein Wort zu mir zu sagen. Er flüch-
tete sich in den ungarischen Saal. Aber ich folgte ihm auf
Schritt und Tritt. Schnell fand ich ihn. Verkrampft an eines
der Regale gelehnt, die Arme vor seiner Brust verschlossen,
drehte er mir den Rücken zu, um mich nicht ansehen zu
müssen. Er stand vor einem der bunten Glasfenster und ich
hätte nicht einmal mit Sicherheit beschwören können, ob
er noch atmete, so schweigsam und still war er. Ich legte
mir die Hand auf den Mund, als wolle ich verhindern, et-
was Falsches zu sagen, und wartete in der Hoffnung, Istvan
würde sich doch noch zu mir umdrehen, was er aber nicht
tat. Sein dunkelblaues Hemd strahlte fast, als die, durch das
Buntglas gefärbten, Lichtstrahlen auf ihn trafen. Er machte
auf mich den Eindruck eines verzweifelnden Märtyrers. Ich
atmete ein paar Mal tief ein, dann legte ich, so sanft ich
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konnte, meine Hand auf seine Schulter. Die Haut unter dem
leichten Baumwollhemd schien zu brennen. Er neigte leicht
den Kopf, mehr nicht.
„Istvan, bitte sieh mich an“, flehte ich mit gebrochener
Stimme.
Ich konnte nur ein leichtes Kopfschütteln bemerken.
„Wieso nicht? Wieso willst du mich nicht ansehen?“
Der Ton in meiner Stimme klang jetzt, als würde ich je-
den Moment um Hilfe schreien, nur ohne Atem darin.
„Du weißt, wieso“, war alles, was er mir dazu zu sagen
hatte.
Ich hörte das erste Mal an diesem Tag seine Stimme. Sie
war jetzt rauer, als ich sie kannte. Tiefer, bedrückter.
„Soll ich gehen?“, fragte ich und das Herz blieb mir ste-
hen bei der Vorstellung, dass er mich nicht länger um sich
haben wollte.
„Nein, ich will nicht, dass du gehst. Aber ich will auch
nicht, dass du mich ansiehst. Schon gar nicht heute Nacht.
Ich weiß genau, wieso du gekommen bist.“
Mit der Art, wie er die letzten Worte sagte, gab Istvan mir
das Gefühl, als hätte ich ein heiliges Versprechen ihm gegen-
über gebrochen. Als wäre ich eine Verräterin und würde da-
bei so tun, als wäre ich mir keiner Schuld bewusst. Aber er
wollte auch nicht, dass ich ging. Das war gut.
„Sieh mich an, Istvan. Ich möchte nur, dass du mit mir
darüber redest. Nicht mehr und nicht weniger. Freunde kön-
nen doch über alles reden.“
Ich hatte es irgendwie doch geschafft. Er drehte sich zu
mir um, mit geschlossenen Augen, die Stirn auf das Holz-
regal stützend, atmete er unruhig ein und aus. Dann sah
er mich endlich an. Was er wohl in meinen Augen las? Ich
wünschte, ich wüsste es.
„Wir sind keine Freunde. Freunde wollen einen nicht
dazu zwingen, Dinge zu tun, die man nicht will“, stellte er
klar. Sein Ton war dabei so eiskalt und unverwandt, als wären
wir Fremde füreinander.
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Seine grünen Augen starrten mich nun hart an. Es fiel
mir schwer, die Fassung zu wahren und nicht zurückzuwei-
chen oder ihm meine verletzten Gefühle zu zeigen. Doch
ich riss mich zusammen. Ich hatte auch ein paar Dinge klar-
zustellen.
„Wir sind Freunde. Ob es dir nun gefällt oder nicht. Ich
bin dein Freund. Und als der will ich dich ganz, so wie du
bist, und nicht eine zensierte Version von dir oder nur mit
den weniger komplizierten Seiten. Istvan. Ich will dich ganz
kennen. Als Mann. Als mein Freund. Und – als Wolf. Ver-
such einen Weg zu finden, damit klarzukommen.“
Für meinen kleinen Vortrag hatte ich meine festeste und
überzeugendste Rednerstimme ausgegraben.
Er schien lange und angestrengt zu überlegen. Ich konnte
die Gedanken förmlich in seinen Augen vorbeiziehen sehen.
„Ich weiß, was du mir damit sagen willst, und es bedeutet
mir unendlich viel, dass du so für mich empfindest. Aber die
Tatsache, dass es mir sehr schwer fällt, mich dir als Wolf zu
zeigen, ist nicht der einzige Grund, weshalb ich deine An-
wesenheit bei einer Verwandlung ablehne. Es gibt da noch
einen Grund.“
Seine Andeutung machte mich neugierig, aber auch be-
sorgt.
„Welchen anderen Grund?“, unterbrach ich ihn ungedul-
dig.
„Ich wehre mich seit jeher gegen die Verwandlung. Es ist
nicht etwas, was ich absichtlich mache. Mein Unterbewusst-
sein kämpft dagegen an und deshalb
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