Wolfsfieber
Valentin
einen Brief, in dem ich meine Geschichte erzählte und um
seine Hilfe bat. Ich schickte ihn zum Jagdschloss, zu seiner
ungarischen Residenz. Er lud mich sofort zu sich ein. Vor
Valentin waren die meisten Leitwölfe, denen ich bisher be-
gegnet war, geborene Werwölfe und nicht wie ich oder er
Gebissene.
Valentin wohnte und lebte zusammen mit seiner Fami-
lie, die gleichzeitig sein Rudel war. Da waren Serafina, sei-
ne Tochter, die erste Werwölfin, die ich bis dahin gesehen
hatte. Woltan, sein Sohn, und drei weitere Werwölfe, die
sich freiwillig von Beginn an Valentins Rudel angeschlossen
hatten. Alle drei waren auch gebissen worden und wurden
gezwungen, dieses Leben zu führen. Er erzählte mir, kurz
nach unserer ersten Begegnung, von einem Fremden, der in
sein altes, rumänisches Dorf gekommen war und ihn und
drei seiner Freunde angegriffen hatte. Das war 1803 in sei-
ner Hochzeitsnacht gewesen. Als ich ihn kennenlernte, war
Valentin also 180 Jahre alt und sah aus wie ein vierzigjäh riger
Mann. Er hatte Serena gerade erst geheiratet, eine Frau,
die er über alles liebte. Alle vier waren am Morgen erwacht,
genau wie ich, und hatten Bisswunden gehabt. Von da an
mussten sie sich verwandeln. Valentin erzählte es sofort sei-
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ner Frau, die weiterhin zu ihm hielt. Er zog von da an, zu-
sammen mit seinen drei Freunden, von Ort zu Ort, um den
Mann zu finden, der ihm das angetan hatte. Ohne Erfolg. Er
wusste über sein Leben genauso wenig wie ich, weshalb er
auch weiterhin mit seiner Frau das Bett teilte wie Mann und
Frau. So bekam Serena im ersten Jahr ihrer Ehe Zwillinge,
Serafina und Woltan, die ebenfalls Werwölfe waren. Valentin
verfluchte sich dafür und versuchte die nächsten 150 Jahre
lang, ein Heilmittel dafür zu suchen, konnte aber nichts fin-
den. Da Valentin und auch seine Kinder nicht so alterten wie
sie selbst, konnte Serena nie sehen, wie ihre eigenen Kinder
heranwuchsen. Sie starb, bevor die Zwillinge ein mensch-
liches Alter von fünf erreicht hatten.
Valentin war verzweifelt. Ohne seine Frau hatte er nur
noch seine Kinder und sein Rudel. Er glaubte nicht an die
alten Legenden, die andere ihm erzählt hatten, und hoffte
auf die Wissenschaft, welche in Europa gerade groß in Mode
war. Er verschlang alles Wissen über Medizin und Alchemie,
das er finden konnte, und traf bei seinen Studien in Polen
auf einen noch älteren Werwolf, der ihn darüber aufklärte,
was unseren Fluch auslöst. Diese Erkenntnisse teilte er mit
mir. Ich glaube, er tat das in der Hoffnung, dass ich mich
ihnen anschließen würde und vielleicht ein Gefährte für Se-
rafina sein könnte.“
Bei dieser kleinen Enthüllung setzte mein Herz aus, ich
ließ ihn aber weitererzählen und unterbrach ihn nicht.
„Es ist wohl so, dass mit dem Biss ein Gift in unseren
Körper gelangt, das die Veränderungen verursacht. Dieses
Gift löst zusammen mit dem Mondlicht die Verwandlung
aus. Die Krankheit, das Gift, ist in unserem Blut, in unserem
Speichel, überall. Es ist aber für andere Menschen nur ge-
fährlich, und damit ansteckend, wenn die Vollmondstrahlen
sehr stark sind – also in den Vollmondnächten. So erfuhr
Valentin, dass seine Kinder die Bürde nur tragen mussten,
weil er unvorsichtig und mit seiner Frau in den Vollmond-
nächten zusammen war. Von da an suchte Valentin verstärkt
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nach einem Heilmittel. Über 200 Jahre lang. Er hat bis heute
keines gefunden. Und langsam glaube ich, dass es unum-
kehrbar ist.“
„Hast du ihn eigentlich gefragt, wieso er nie versucht hat,
Serena zu verwandeln?“, wollte ich neugierig wissen.
„Nein. Das musste ich ihn nicht fragen. Wir beide dach-
ten in dieser Sache gleich. Wir wünschten niemandem,
den wir liebten, dieses Leben. Du musst dir vorstellen, du
könntest nie an einem Ort bleiben, hättest nie ein Zuhause,
wärst immer deinen Instinkten ausgeliefert und könntest nie
normal leben. Du müsstest zusehen, wie Menschen, die du
liebst und kennst, sterben, und du kannst immer nur zuse-
hen und bist gezwungen weiterleben. So ein verlorenes Le-
ben ist kaum zu ertragen.“
Er hatte wieder diesen traurigen, verzweifelten Blick, der
mir Angst einjagte.
„Ich blieb fast fünf Jahre in der Nähe von Valentin und
seiner Familie, schloss mich aber nie wirklich seinem Rudel
an. Ich verbrachte viel Zeit mit Serafina und Woltan, die bes-
ser mit ihrer Bürde klarkamen, da sie damit geboren wurden
und
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