Wolfsfieber
seit über 160 Jahren kein anderes Leben kannten. Wäh-
rend Woltan schon einmal verheiratet war, war Serafina im-
mer allein geblieben wie ich. Diese Gemeinsamkeit machte
uns zu Freunden, auch wenn wir nie mehr waren als das.
Valentin ist auch der Einzige von unserer Art, der Regeln
für das Leben und das Rudel aufgestellt hat. Als einziger von
uns fand er für sich eine Lebensaufgabe. Die Aufgaben und
Regeln gingen Hand in Hand.
Das wichtigste Verbot ist, dass niemand aus seinem Ru-
del es wagen darf, einen Menschen zu beißen oder absicht-
lich einen neuen Werwolf zu schaffen. Selbst als sein eigener
Sohn Woltan ihn anflehte, seine Frau verwandeln zu dür-
fen, weil er sie nicht verlieren wollte, blieb Valentin stand-
haft. Andere Rudel beißen immer mal wieder Menschen.
Valentin greift nur dann ein, wenn es sich dabei nicht um
Einzelfälle handelte. Unter unseresgleichen ist Valentin eine
104
Art Wächter, der für eine Ordnung sorgt. Valentins Familie
entschließt sich nur dann für Kampf, wenn sie keine andere
Wahl mehr haben. Die zweite wichtige Regel betrifft die Ge-
heimhaltung. Um seine Familie und alle anderen zu schüt-
zen, sorgt Valentin, im Falle einer möglichen Enthüllung, für
Schadensbegrenzung. Sein Rudel vernichtet alle Beweise für
unsere Existenz, wenn es sein muss.
Wir beschlossen zu der Zeit, als ich zu ihm stieß, Freunde
zu bleiben. Ich sicherte ihm zu, mich an seine Regeln zu hal-
ten, und er ließ mir meine Unabhängigkeit, denn er wusste,
ich war ein Alpha und ein einsamer Wolf, ich hätte nie mit
seinem Rudel leben können. Auch wenn es gut war, nach
all den Jahren endlich Freunde und Verbündete gewonnen
zu haben, musste ich weiter allein bleiben. Wir halten aber
seither immer Kontakt.
1969 kehrte ich dann wieder in die USA zurück. Ich
arbeitete dort erneut als Übersetzer und Werbegrafiker. Ein-
mal im Jahr flog ich nach Europa und traf mich mit dem
Valentin-Rudel. Wir tauschten neue Informationen aus und
erneuerten unsere Freundschaft.
Ende der Siebziger kehrte ich nach Ungarn zurück. Ich
unterrichtete an der Budapester Universität. Die Achtziger
und Neunziger verbrachte ich hauptsächlich in Deutschland
und Wien. Ich kämpfte gegen mein Heimweh und meine
Einsamkeit an. Ich wollte nicht mehr. Ich verstand nicht,
wie Valentin es über 200 Jahre aushalten konnte. Ich war des
Lebens, meines Lebens, so überdrüssig. Ich konnte keine
Hoffnung mehr sehen. Immerhin hatte Valentin in all den
Jahren keine Lösung gefunden und ich sah überall nur noch
Dunkelheit und Verzweiflung. Ich wollte nicht mehr allein
sein müssen. Ich wollte nicht mehr in meiner Haut sein müs-
sen. Ich wollte mein Leben einfach nur beenden. Doch ich
wäre nie fähig, Selbstmord zu begehen, das ist gegen meine
Überzeugung. Ich beschloss, mich vom Leben vollkommen
zurückzuziehen und einfach auf das Ende zu warten, auch
wenn es ewig dauern würde.
105
Nachdem ich die schwärzesten Jahre meines Lebens
überstanden hatte, fand ich doch noch zurück ins Leben.
Ich erkannte, dass ich nicht davonlaufen konnte, dass ich
nicht aufgeben durfte, egal, wie hoffnungslos meine Lage
auch ist.
Und schließlich ist es mir dann doch gelungen, nach
Hause zurückzukehren. Es hat sich ausgezahlt, nicht auf-
zugeben. Ich bin nicht länger allein. Jetzt hab ich ja eine
wahre Freundin. Eine Vertraute, die meine ganze Geschich-
te kennt. Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal vergönnt
sein würde“, gestand er mir mit seinem sanften Lächeln und
strich mir dabei zärtlich über die Wange.
Es war das erste Mal, nach ganzen drei Wochen, dass er
mich berührt hatte. Seine Hand war sehr warm, fast schon
heiß. Ich hatte fast vergessen, wie sich seine Wärme auf mei-
ner Haut anfühlte. Es traf mich ganz unvorbereitet.
„Istvan, deine Hand ist ja glühend heiß“, bemerkte ich
flüsternd.
„Hast du es vergessen, bald beginnen die Vollmondnächte
und ich habe bereits eine Temperatur von 40 Grad“, erinnerte
er mich.
Ich sank in den Schreibtischstuhl zurück. Er saß noch
immer auf dem Tisch vor mir und starrte mich an wie die
ganze Zeit über, als er mir von den schwierigen Jahren seines
Lebens erzählt hatte. Istvan sah, dass ich verstand.
Bald war Vollmond. Damit rückte die Zeit, in der Istvan
sich verwandeln musste, unaufhaltsam näher. Tag für Tag.
Stunde für Stunde.
106
7. Unerwünschte Verwandlung
Er hatte es von Anfang an klargestellt.
Weitere Kostenlose Bücher