Wolfsfieber
hörte ich das Eingangstor auf-
und zuschnappen und drehte mich automatisch um. Binnen
weniger Sekunden stand Istvan in der Tür, groß und ent-
schlossen. Er trug das gleiche dunkelblaue Hemd wie zuvor.
Auch ich hatte mich nicht umgezogen und noch immer die
schwarze Jeans und den schwarzen Rollkragenpulli an. Das
Einzige an mir, das nicht schwarz war, war mein grüner Par-
ka. Er lehnte am Türrahmen und schien irgendetwas in der
Hand zu haben, das wie ein Block wirkte.
Er sah mich lange an, bevor er zu meinem Schreibtisch
kam. Ich zog meine Jacke aus und versuchte, es mir in dem
Schreibtischdrehstuhl bequem zu machen. Istvan schien
es unmöglich, locker oder unverkrampft zu sein. Er kam an
meine Seite und setzte sich halbherzig auf den Tisch, immer
noch zum Zerreißen angespannt. Jetzt, wo er nur Zentimeter
von mir entfernt war, konnte ich sehen, was er in der Hand
hielt. Es war ein Plan, eine Karte von unserer Gegend.
„Und du bist immer noch fest entschlossen?“, frage er
wieder nach meinen Absichten.
„Ja.“
„Dann soll es so sein!“, sagte er mit einem Ausdruck ge-
zwungener Entschlossenheit.
Er breitete mit einem einzigen schnellen Handgriff die
Karte, die das Gebiet um den Geschriebenstein umfasste,
vor uns auf dem Schreibtisch aus. Sie bedeckte den ganzen
Tisch und strotzte nur so vor Grünflächen und Waldgebie-
ten. Die grünen Wälder in Istvans Augen, dachte ich sofort
und musste mich beherrschen, um meine Gedanken nicht
laut zu äußern.
„Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich zwei Lager in
meinem Revier habe. Das erste Lager befindet sich hier.“
Er zeigte dabei auf die Passhöhe, den Geschriebenstein,
und damit auf den höchsten Punkt. In kleiner Kursivschrift
stand nahe diesem Punkt das Wort „Wolftanz“ geschrieben
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und bezeichnete damit den Wald, den Istvan als nördlichen
Lagerplatz benutzte.
„Du kommst ganz leicht von dem Besucherparkplatz über
einen kurzen Wanderweg dorthin. Du musst nur einen klei-
nen Abstecher vom offiziellen Wanderpfad machen. Hier.“
Wieder zeigte er auf einen kleinen Trampelpfad und darauf,
wo man abbiegen musste, um zu seinem Lager zu kommen.
Mit einem einzigen Zug fuhr sein langer, schlanker Finger
die Karte hinab und hielt an einer anderen Stelle, auf dem
Südhang des Gebirges gelegen.
„Hier. Ganz nahe deinem Haus. Siehst du den Stein-
bruch?“, wollte er wissen. Ich nickte. Er kam mir jetzt wie
ein Geografielehrer vor, der einfach nur ein Gelände erklär-
te, sachlich und ohne jede erkennbare Emotion.
„Du kennst ja die Straße zum Steinbruch. Kurz vor dem
Ende musst du die Anhöhe des Waldes etwa einen Kilometer
hinauf, dann kommst du geradeaus zu einem großen Stein.
Von dort gehst du einen halben Kilometer nach links. Dort
ist mein südlicher Lagerplatz. Du wirst mich wahrscheinlich
dort finden, wenn du mich nach dieser Nacht überhaupt
noch finden willst“, bemerkte er mit einem beißenden Unter-
ton, der mir verriet, dass er eigentlich damit rechnete, dass
nach dieser Nacht unsere Freundschaft, oder was immer uns
verband, Geschichte sein würde.
Er hatte offenbar kein Vertrauen in mich. Ich war fester
entschlossen denn je, ihm das Gegenteil zu beweisen.
„So. Das war jetzt der einfache Teil. Zu heute Nacht. Was
dich erwartet, ist kein schöner Anblick. So viel schon mal
vorweg. Ich werde Fieber bekommen, sehr heftig. Ich wer-
de Krämpfe haben. Sobald es sechs ist und die Dämmerung
wirklich beginnt und der Mond anfängt aufzugehen, bin ich
extrem lichtempfindlich. Meine Kopfschmerzen werden sehr
stark sein. Meine Adern werden deutlich hervortreten. Die
weiteren physischen Details der Verwandlung erspare ich dir
lieber. Du wirst selbst sehen, was ich meine“, sagte er und
versuchte mir damit offenbar Angst einzujagen.
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Aber ich war, wie gesagt, bereits fest dazu entschlossen und
Istvan kannte meine legendäre Sturheit noch nicht so gut.
„Wie wird es für dich sein? Sind die Schmerzen immer so
stark?“, fragte ich zögerlich und hatte Angst vor der Antwort,
Angst um ihn.
„Wie soll ich dir das erklären?“ Er überlegte, dann fragte
er mich:
„Hattest du schon mal einen Wadenkrampf?“
„Ja, natürlich. Ist echt unangenehm. Tut ganz schön weh“,
antwortete ich ehrlich.
„Ja, das tut es. Und nun stell dir vor, jeder Muskel deines
Körpers würde sich genauso verkrampfen und würde diesel-
ben Schmerzen verursachen. Stell dir vor, jeder
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