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Wolfsfieber

Wolfsfieber

Titel: Wolfsfieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Adelmann
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Quadratzenti-
    meter deiner Haut würde brennen im Fieber und du könn-
    test nichts dagegen tun. Stell dir vor, dass du nichts mehr
    denken und fühlen könntest, abgesehen von Schmerzen. So
    ist es. So fühlt es sich an.“
    Ich konnte den Schmerz, die Erinnerung an die Schmer-
    zen, in seinen Augen sehen. In seinen grünen Augäpfeln
    blitzten goldene und silberne Blitze auf, als würde ein Sturm
    hinter seinen Augen toben.
    Jetzt wollte ich nicht mehr bei ihm sein, um seine Wolfs-
    gestalt zu sehen, ich wollte bei ihm sein, um ihm beizuste-
    hen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er fast
    achtzig Jahre seines Lebens Monat für Monat dieser Tortur
    durchgemacht hatte, ohne jemanden an seiner Seite, der für
    ihn da war oder versuchte, ihn zu trösten. Ich schwor mir
    selbst, in dieser Nacht sein Trost zu sein und zu tun, was in
    meiner Macht stand, um ihm das Gefühl zu geben, dass er
    nicht länger allein war.
    „Wir haben auch über Verhaltensweisen gesprochen.
    Worauf soll ich achten?“, fragte ich und merkte, dass meine
    Stimme plötzlich einen besänftigenden Ton hatte, den ich
    sonst nur von meiner Mutter kannte.
    „Egal, was passiert. Fass mich nicht an. Zu deiner eigenen
    Sicherheit. Ich meine es ernst. Ich habe keine Erfahrung mit
    116

    menschlicher Nähe, wenn ich in meiner Wolfsform bin, des-
    halb versuche besser nicht, mich zu berühren“, warnte er
    mich eindringlich.
    „Und wenn du verwandelt bist, dann wirst du in den Wald
    laufen. Was dann?“
    „Du kannst mir nicht folgen. Ich bin viel zu schnell und
    du würdest dich in der Dunkelheit im Wald nur verirren.
    Ich werde versuchen, zum Südlager zu kommen. Wenn der
    Morgen anbricht, kannst du mich dort abholen. Wenn du
    dann noch da bist.“
    Schon wieder dieser Einwand. Wieso konnte er nicht ver-
    stehen, dass ich nicht gehen würde. Dass ich nicht gehen
    wollte. Dass ich seine Nähe suchte.
    „Ich habe alles verstanden und werde versuchen, alles
    richtig zu machen.“
    Er faltete gekonnt die Karte zusammen, etwas, das mir
    noch nie gelungen war, und gab sie mir dann. Ich steckte sie
    in die großen Taschen meines Parkas.
    „Wir können dann gleich zu mir gehen. Ich muss nur vor-
    her ein paar Bücher noch an ihren Platz stellen. Drüben im
    Ungarischen Saal. Wartest du solange?“
    „Ja, lass dir Zeit. Ich stöbere in der Zwischenzeit etwas in
    den deutschen Büchern.“
    Er ging und schien noch immer in düsterer Stimmung.
    Sogar sein Gang verriet es.
    Ich schlenderte vor den Regalen hin und her, konnte aber
    nichts finden, was mich wirklich interessierte. Meine Gedan-
    ken kreisten um heute Nacht und um Wälder und rennende
    Wölfe und Lager, die es auf Karten zu finden galt. Mein Blick
    streifte über die Buchrücken und blieb an einer alten Aus-
    gabe eines Gedichtbandes von Robert Frost hängen. Da fiel
    mir ein, dass ich irgendwann einmal ein Frost-Gedicht über
    den Wald gelesen hatte, das von Versprechen handelt. Ich
    nahm den Band aus dem Regal und suchte akribisch nach
    der passenden Stelle. Schnell fand ich den letzten Absatz der
    berühmten Verse:
    117

    Der Wald ist lieblich, dunkel, tief,
    doch ich muss tun, was ich versprach,
    und Meilen gehen, bevor ich schlaf,
    und Meilen gehen, bevor ich schlaf.
    Ich kannte diese Zeilen bereits. Aber nun, vor dieser Nacht,
    schienen sie für mich eine ganz neue Bedeutung zu haben.
    Ich fühlte die Verpflichtung und Dringlichkeit meines selbst
    gewählten Versprechens an Istvan, als wäre es eine Lebens-
    aufgabe. Und ich konnte den Wald und den Mann, den ich
    bald darin suchen würde, durch Frosts Worte klar vor mir
    sehen.
    Ich schloss das Buch, stellte es an seinen Platz zurück
    und wiederholte immer wieder in Gedanken die Verse, wie
    ein Gebet.
    Ich hatte es nicht bemerkt, doch Istvan stand die ganze
    Zeit bereits im Zimmer und sah mir zu, wie ich das Buch
    zurücklegte. Er sagte nichts und nickte nur kurz, dass wir
    gehen könnten. Ich schnappte mir meine Jacke und ging zu-
    sammen mit ihm die kurze Strecke bis zu seinem Haus. Die
    alte Pfarrhaus-Schule, mit den Efeu berankten Steinmauern,
    schien mir in dieser Abenddämmerung ein wenig unheim-
    lich.
    Wir traten ein und ich bemerkte, dass die Stiegen zu der
    Veranda bereits repariert waren. Das erinnerte mich an mei-
    nen letzten Besuch hier, der ebenfalls von eher dramatischer
    Natur war. Würde es heute noch dramatischer ablaufen?
    Es war schon kurz vor sechs Uhr. Istvan zeigte bisher
    noch keine Symptome. Draußen

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