Wolfsfieber
Quadratzenti-
meter deiner Haut würde brennen im Fieber und du könn-
test nichts dagegen tun. Stell dir vor, dass du nichts mehr
denken und fühlen könntest, abgesehen von Schmerzen. So
ist es. So fühlt es sich an.“
Ich konnte den Schmerz, die Erinnerung an die Schmer-
zen, in seinen Augen sehen. In seinen grünen Augäpfeln
blitzten goldene und silberne Blitze auf, als würde ein Sturm
hinter seinen Augen toben.
Jetzt wollte ich nicht mehr bei ihm sein, um seine Wolfs-
gestalt zu sehen, ich wollte bei ihm sein, um ihm beizuste-
hen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er fast
achtzig Jahre seines Lebens Monat für Monat dieser Tortur
durchgemacht hatte, ohne jemanden an seiner Seite, der für
ihn da war oder versuchte, ihn zu trösten. Ich schwor mir
selbst, in dieser Nacht sein Trost zu sein und zu tun, was in
meiner Macht stand, um ihm das Gefühl zu geben, dass er
nicht länger allein war.
„Wir haben auch über Verhaltensweisen gesprochen.
Worauf soll ich achten?“, fragte ich und merkte, dass meine
Stimme plötzlich einen besänftigenden Ton hatte, den ich
sonst nur von meiner Mutter kannte.
„Egal, was passiert. Fass mich nicht an. Zu deiner eigenen
Sicherheit. Ich meine es ernst. Ich habe keine Erfahrung mit
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menschlicher Nähe, wenn ich in meiner Wolfsform bin, des-
halb versuche besser nicht, mich zu berühren“, warnte er
mich eindringlich.
„Und wenn du verwandelt bist, dann wirst du in den Wald
laufen. Was dann?“
„Du kannst mir nicht folgen. Ich bin viel zu schnell und
du würdest dich in der Dunkelheit im Wald nur verirren.
Ich werde versuchen, zum Südlager zu kommen. Wenn der
Morgen anbricht, kannst du mich dort abholen. Wenn du
dann noch da bist.“
Schon wieder dieser Einwand. Wieso konnte er nicht ver-
stehen, dass ich nicht gehen würde. Dass ich nicht gehen
wollte. Dass ich seine Nähe suchte.
„Ich habe alles verstanden und werde versuchen, alles
richtig zu machen.“
Er faltete gekonnt die Karte zusammen, etwas, das mir
noch nie gelungen war, und gab sie mir dann. Ich steckte sie
in die großen Taschen meines Parkas.
„Wir können dann gleich zu mir gehen. Ich muss nur vor-
her ein paar Bücher noch an ihren Platz stellen. Drüben im
Ungarischen Saal. Wartest du solange?“
„Ja, lass dir Zeit. Ich stöbere in der Zwischenzeit etwas in
den deutschen Büchern.“
Er ging und schien noch immer in düsterer Stimmung.
Sogar sein Gang verriet es.
Ich schlenderte vor den Regalen hin und her, konnte aber
nichts finden, was mich wirklich interessierte. Meine Gedan-
ken kreisten um heute Nacht und um Wälder und rennende
Wölfe und Lager, die es auf Karten zu finden galt. Mein Blick
streifte über die Buchrücken und blieb an einer alten Aus-
gabe eines Gedichtbandes von Robert Frost hängen. Da fiel
mir ein, dass ich irgendwann einmal ein Frost-Gedicht über
den Wald gelesen hatte, das von Versprechen handelt. Ich
nahm den Band aus dem Regal und suchte akribisch nach
der passenden Stelle. Schnell fand ich den letzten Absatz der
berühmten Verse:
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Der Wald ist lieblich, dunkel, tief,
doch ich muss tun, was ich versprach,
und Meilen gehen, bevor ich schlaf,
und Meilen gehen, bevor ich schlaf.
Ich kannte diese Zeilen bereits. Aber nun, vor dieser Nacht,
schienen sie für mich eine ganz neue Bedeutung zu haben.
Ich fühlte die Verpflichtung und Dringlichkeit meines selbst
gewählten Versprechens an Istvan, als wäre es eine Lebens-
aufgabe. Und ich konnte den Wald und den Mann, den ich
bald darin suchen würde, durch Frosts Worte klar vor mir
sehen.
Ich schloss das Buch, stellte es an seinen Platz zurück
und wiederholte immer wieder in Gedanken die Verse, wie
ein Gebet.
Ich hatte es nicht bemerkt, doch Istvan stand die ganze
Zeit bereits im Zimmer und sah mir zu, wie ich das Buch
zurücklegte. Er sagte nichts und nickte nur kurz, dass wir
gehen könnten. Ich schnappte mir meine Jacke und ging zu-
sammen mit ihm die kurze Strecke bis zu seinem Haus. Die
alte Pfarrhaus-Schule, mit den Efeu berankten Steinmauern,
schien mir in dieser Abenddämmerung ein wenig unheim-
lich.
Wir traten ein und ich bemerkte, dass die Stiegen zu der
Veranda bereits repariert waren. Das erinnerte mich an mei-
nen letzten Besuch hier, der ebenfalls von eher dramatischer
Natur war. Würde es heute noch dramatischer ablaufen?
Es war schon kurz vor sechs Uhr. Istvan zeigte bisher
noch keine Symptome. Draußen
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