Wolfsfieber
Sympathie zurückzugewinnen.
„Sag mal, weiß man schon, wer dafür verantwortlich war
oder was?“, fragte ich, als ob ich nichts von alledem wüsste.
„Ein Wolf war es, genau wie der Tierarzt vermutet hat-
te. Aber er war nicht tollwütig. Die Jäger haben ihn noch in
derselben Nacht erwischt und zum Veterinär gebracht, der
hat ihn untersucht und konnte keine Anzeichen von Tollwut
feststellen.“
Es war schwer sich vorzustellen, dass er von demselben
Tier sprach, das ich so betrauert hatte.
„Was war dann mit ihm? Das ist doch nicht normal, so
ein Verhalten“, murmelte ich vor mich hin und sprach eher
mit mir selbst.
„Der Tierarzt meinte, es müsse wohl eine andere Krankheit
sein, die sich erst mithilfe einer umfassenden, teuren Unter-
suchung feststellen lässt, oder dass er vielleicht verhaltensauf-
fällig war. Solche Kosten für die Gemeinde könnte ich nicht
rechtfertigen. Außerdem ist der Übeltäter ja aus der Welt. Das
schreib aber bitte nicht, das war nur so unter uns.“
Ich nickte abwesend und sah zur Tür, wo mittlerweile
die ersten Gäste einströmten. Ich ging zurück zum Lehrer-
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zimmer, bevor es zu voll wurde, und holte mir einen weite-
ren Stapel Bücher zu Alibizwecken. Ich stellte die Wälzer
auf Istvans Tisch. Ich flüsterte ihm schnell und unter vor-
gehaltener Hand zu, was Taucher zum Vorfall gesagt hatte.
Er nickte nur, stellte die Bücher, die ich gebracht hatte, an
ihren Platz und meinte:
„Vielleicht war er ja wirklich verhaltensauffällig. Selten.
Aber so etwas gibt es.“ Wie er es sagte, schien er sich mehr
selbst davon überzeugen zu wollen.
Mir war es mittlerweile nicht mehr ganz so wichtig, alle
Details zu kennen. Mich interessierte nur, dass Istvan noch
am Leben und wohlauf war. Der Gedanke brachte mich wie-
der in die Bedrängnis, Istvan anzustarren. Ich ging wieder.
Es war sehr schnell voll geworden und die Besucher mach-
ten sich nun über die Stände her, um Bücher und anderen
Krimskrams zu kaufen. Ich holte meine Kamera aus dem
Wagen und machte von allem ein paar Fotos, nur Istvan foto-
grafierte ich nicht. Damit es nicht so auffiel, tat ich so und
richtete das Objektiv in Richtung seines Standes, ohne den
Auslöser zu betätigen. Ab und an sah ich mir sein Gesicht im
Sucher an und zoomte näher heran. Seine Lider waren dabei
immer gesenkt, als wüsste er, dass ich ihn im Visier hatte.
Konnte er etwa sogar das leise Zoom-Geräusch meiner Ka-
mera hören, bei all dem Gewusel in der Schule? Vermutlich
ja, denn jedes Mal, wenn ich meine Kamera herunternahm,
schmunzelte er und blickte dabei etwas hoch.
Um sechs Uhr wurde es langsam dunkel. Die Kinder
und Lehrer begannen mit den letzten Vorbereitungen zur
Martini-Aufführung. Die Eltern und andere Leute aus der
Gemeinde begannen nach einem Sitzplatz zu suchen. Die
Stände waren nun fast leer. Während Martin noch mit
einer Mutter sprach, packte Istvan bereits zusammen. Es
war schon komisch, Istvan und Martin gegenübergestellt zu
sehen. Sie sahen sich nicht im Geringsten ähnlich. Wäh-
rend Istvan diese hohen Wangenknochen und das kantige
Kinn vorweisen konnte, waren Martins Gesichtszüge eher
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rundlich und weich. Martin hatte so gut wie keinen Bart-
wuchs. Er war ein eher nordischer Typ, obwohl er brünette,
kurze Locken hatte. Mir war erst jetzt aufgefallen, dass ich
nicht einmal gesehen hatte, dass beide miteinander redeten.
Eigentlich unterhielt sich Martin gleich mit jedem. Er hat-
te diese offene, zugängliche Art, die ihn auf jeden einfach
zugehen ließ. Ich vermutete, dass Istvan absichtlich einen
reservierten Eindruck erweckte, um eine mögliche Unter-
haltung zu verhindern. Ich hielt das, wenn ich ehrlich war,
für eine gute Idee.
Ich stellte auf zwei Stühle in der dritten Reihe meine
Kameratasche, um sie für Paula und Viktor zu besetzen.
Dabei sprach mich ein alter Freund meines Vaters an, den
ich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Ri-
chard war Lehrer am selben Gymnasium wie mein Vater und
seit Kurzem in Pension. Seine Frau und er hatten früher oft
meine Eltern besucht. Sie waren heute gekommen, um die
Kinderaufführung zu sehen, und freuten sich offensichtlich
mich wiederzusehen. Richards Frau war die kleinste Person,
die ich je im Leben gesehen hatte. Sie war gerade mal eins
fünfzig groß und sehr schmal, mit langen, aschblonden Haa-
ren und schmalem, langem Gesicht. Richard selbst war, jetzt
im
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