Wolfsfieber
wusste.
Ich könnte vor Martin nicht ständig Istvan umkreisen,
ohne Verdacht zu erregen, und zu allem Überfluss musste
ich die Aufführungen der Kindergartenkinder fotografieren.
Der Bürgermeister würde auch dabei sein und ich hatte noch
keine Ahnung, wie ich ihm mein merkwürdiges Verhalten er-
klären sollte. Es stand zweifelsohne fest: Es erwartete mich
ein Spießrutenlauf, den es zu überstehen galt, wollte ich ein
paar Antworten erhalten, wie es zu dieser Katastrophe kom-
men konnte.
Als ich beim Schulhof ankam, war es später Nachmittag. Die
Vorbereitungen für die Martini-Feier waren bereits in vollem
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Gange. Im Inneren des Schulgebäudes hetzten zwanzig Frei-
willige hektisch von Tisch zu Tisch und platzierten Bücher,
Basteleien und Naschwerk. Am Ende des Ganges, der links
und rechts mit geschmückten Tischen vollgestellt war, stand
eine kleine Holzbühne, auf der zwei kräftige Männer die
Requisiten platzierten. Man plante, einige Singstücke zum
Besten zu geben und die alljährliche Geschichte des heiligen
Martin aufzuführen. Die Kinder probten in den Räumen des
benachbarten Kindergartens, wobei ab und zu Gesang bis in
die Schulflure vordrang. Niemand nahm Notiz von mir. Alle
schienen vollauf mit ihren Aufgaben beschäftigt, was mir die
Möglichkeit gab, ohne Schwierigkeiten mit Istvan zu reden.
Aber ich hatte ihn noch nicht entdeckt. Martin war eben-
falls nicht in der Nähe. Jetzt oder nie, sagte ich mir, und ging
in das Konferenzzimmer, das an diesem Tag als Lagerraum
fungierte. Da fand ich ihn, als hätte ich ihn dorthin bestellt,
umgeben von riesigen Bücherstapeln war er gerade dabei,
Preisschilder anzubringen.
Er sah nicht hoch, obwohl ich genau wusste, dass er mich
bereits kommen gehört hatte, als ich die Schule betrat.
„Bekomme ich nicht mal ein Hallo?“, wollte ich von ihm
wissen. Mein Ton klang ungewollt vorwurfsvoll.
„Natürlich – hallo“, sagte er, ohne mich auch nur eines
Blickes zu würdigen, und fügte noch hinzu:
„Ich dachte, wir hätten ausgemacht, heute so wenig
wie möglich miteinander zu reden. Deine Idee, weißt du
noch?“
Jetzt hatte seine Stimme diesen vorwurfsvollen Ton auf
Lager. Ich wollte ihn am liebsten ohrfeigen und im gleichen
Augenblick machte mein Herz einen Freudensprung, ein-
fach weil mir wieder bewusst wurde, dass er noch lebte.
„Ja, stimmt. Aber noch ist keiner in Hörweite und ich
habe ein paar dringende Fragen, die nach deinen Antworten
verlangen, Mister.“ Das hatte gesessen. Endlich starrte er
mich an, überrascht von meiner Dreistigkeit.
„Leg los. Als ob ich dich davon abhalten könnte.“
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Wieso war er bloß so gereizt? War er mir etwa böse, weil
ich die Grenzen unserer Freundschaft übertreten hatte?
„Was zur Hölle ist mit den Meyer-Schafen passiert? Was
weißt du darüber?“
„Ich weiß gar nichts darüber. Ich habe erst gestern Nach-
mittag vom Bürgermeister davon erfahren. Du denkst doch
nicht, dass ich …“
„Nein, nein. Natürlich nicht. Aber du warst verschwun-
den, wieso?“, fragte ich und trat nun hinter den Stapel mit
den Büchern, direkt an seine Seite. Ich versuchte, ihm einen
Blick voller Zuversicht zu schenken. Es musste mir gelungen
sein, denn er beantwortete meine Fragen von da an.
„Als ich deine Nachricht hörte, beschloss ich, gleich in den
Wald zu gehen. Ich wusste, die Verwandlung wäre diesmal
schlimmer, allein. Ich wollte sie nicht zu lange hinauszögern.
Doch sobald ich den Waldrand erreicht hatte, nahm ich die
Witterung eines Wolfes auf. Ich versuchte, seiner Fährte zu
folgen, verlor sie jedoch ständig. Die Verwandlungsschmer-
zen lenkten mich zu sehr ab. Erst kurz nach Mitternacht
fand ich seinen Geruch wieder. Es ist viel leichter als Wolf,
einen Wolf aufzuspüren. Er war schnell, verflucht schnell,
und entkam mir immer wieder. Ich konnte mich ihm erst
nähern, als es schon zu spät war. Allerdings hatte ich schon
wieder meine menschliche Gestalt. Ich konnte nichts mehr
für das arme Tier tun, der Jäger hatte es erwischt, zwei Mal.
Der Kopfschuss war tödlich. Ich wollte mich gerade auf den
Weg ins Lager machen, da hörte ich deinen Schrei.“
Er erzählte mir alles im Flüsterton, gebückt hinter dem
Bücherwall. Hätte auch nur einer der Helfer Teile unserer
merkwürdigen Unterhaltung gehört, würden bald Männer
mit engen, weißen Jacken auftauchen, deshalb schien mir
das Flüstern eine gute Idee zu
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