Wolfsfieber
irgendeine Hand nach mir griff,
dann wieder Dunkelheit. Ich spürte den kalten Luftzug auf
meinen nassen Haaren und den Druck von Händen, die mei-
nen Brustkorb pressten, und mit einem säuerlichen Schwall
trieben sie mir das Wasser aus dem Körper und ich atmete
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wieder. Einen Mann, der mich hielt, eine warme Umarmung
fühlte ich. Ich sah jedoch nichts. Ich erinnere mich an das
sichere Gefühl, das ich in den Armen des Fremden hatte.
Dann fühlte ich das Loslassen. Ich hatte noch immer die Au-
gen geschlossen. Danach hörte ich die angsterfüllten Schreie
meiner Eltern. Wir hatten nie erfahren, wer mich damals ge-
rettet hatte. Die Lokalzeitung schrieb dazu: „Unbekannter
Samariter rettet Kind vor dem Ertrinken.“ Ich hatte das alles
schon fast vergessen. Ich erinnerte mich nur daran, wenn
ich in der Nähe eines Sees war oder wenn ich wieder ein-
mal jemandem gestehen musste, dass ich nicht schwimmen
konnte. Istvan war also mein geheimnisvoller Retter aus der
Kindheit und gleichzeitig war er der erste Mann, in den ich
mich je verliebt hatte. Die Dinge konnten also tatsächlich
noch merkwürdiger werden. Wieso wollte er um jeden Preis
verhindern, dass ich erfuhr, dass er mir einmal das Leben
gerettet hatte, vor so vielen Jahren? Hatte er etwa Angst, ich
könnte ihm gegenüber anders empfinden, wüsste ich davon?
Ich musste die Geschichte aus seiner Sicht lesen. Ich suchte
nach Beiträgen aus dem Jahr 1989. Es gab ein paar davon.
Meistens waren es nur zutiefst deprimierende Eindrücke,
die die Welt auf Istvan ausübte, und Weltschmerz und Über-
druss strömten aus jeder Zeile. Dann fand ich es endlich.
„Frühsommer 1989. Ich war früher nach Hause ge-
kommen als geplant. Ich hatte es satt. Ich hatte alles satt.
1988 war schon zu viel gewesen. Ich konnte kein Jahr län-
ger so weitermachen. Der Plan war, zu Hause auf den Tod
zu warten. Ich würde mir ein Blockhaus in den Wäldern er-
richten und dann auf das Ende warten, auch wenn es noch
hundert Jahre oder länger dauerte. Ich zog mich vom Leben
zurück. Es brachte doch nur immer Enttäuschung und ver-
wehrte mir jede Erlösung von diesem Leben, in dem ich ge-
fangen war. Ich gab jede Hoffnung auf. Ich glaubte nicht
mehr an Heilung oder an irgendetwas Gutes, das die Welt
vielleicht für mich bereithielt. Es würde zu Ende gehen. Es
war lediglich eine Frage der Zeit.“
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Es tat mir in der Seele weh, Istvan so verzweifelt und
hoffnungslos zu wissen. Ich musste mich regelrecht zwingen
weiterzulesen.
„Gott hat mich wiedergefunden und ich, ich habe die
Hoffnung wiedergefunden. Heute ist ein Wunder gesche-
hen. Ich habe ein Mädchen gerettet. Ich habe einen Platz in
dieser Welt. Ich kann etwas bewirken, ich kann gut sein. Ich
werde diesem kleinen Mädchen für immer dankbar sein.
Ich traf auf das Kind ganz zufällig. Ich war gerade zu Fuß
auf dem Weg in eines meiner Basislager, um Vorräte nach-
zufüllen, da hörte ich die erstickten Schreie der Kleinen
unter Wasser. Ihr kleiner, hübscher Herzschlag wurde im-
mer leiser und schwächer. Ich rannte aus dem Wald hinter
dem Rohnitzer-Stausee und sprang in das Wasser. Niemand
schien den Todeskampf des Mädchens bemerkt zu haben.
Ich konnte, dank meines geschärften Blicks, die Konturen
ihres kleinen Körpers im Wasser ausmachen und schwamm
auf sie zu. Ihren winzigen Arm mit den schmalen Handge-
lenken erreichte ich zuerst. Ich zog sie an die Oberfläche,
doch ihren Puls konnte ich kaum noch hören. Ich brachte
sie so schnell ich konnte an den Rand des Wassers. Ich trug
ihren bewegungslosen Körper vom Wasser weg und legte sie
auf das feuchte Gras. Ich musste ihre Lungen vom Wasser
befreien und versuchte, es aus ihrem Brustkorb zu pressen.
Ich hatte Angst, zu fest zu pressen und ihr womöglich die
Rippen zu brechen. Doch schon beim dritten Mal spuckte
sie das Wasser aus und hustete heftig. Sie öffnete nicht ihre
Augen. Ihre kleinen Fäuste hielten sich an meinem nassen
Hemd fest. Ich versicherte ihr ständig, dass alles wieder gut
werden würde, dass sie jetzt wieder in Sicherheit wäre. Das
kleine, blonde Mädchen schien mir zu glauben, denn sie
schlief in meinen Armen erschöpft ein. Ich wollte ihr gera-
de meine Jacke umlegen, da hörte ich, wie schnelle Schritte
auf der anderen Seite des großen Stausees die Treppe rauf-
rannten. Ein Mann schrie: ‚Verdammt, du solltest doch auf
deine Cousine aufpassen und nicht auf der Straße
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