Wolfsfieber
Rad fah-
189
ren, was ist bloß in dich gefahren?‘ Ich musste verschwin-
den, ehe mich jemand sah. Ich legte das Mädchen vorsichtig
ins Gras und lief in den Wald zurück, wo ich mich hinter
einem Baumstamm versteckte. Die Eltern stürzten erschüt-
tert auf das Mädchen zu. Die roten Haare der Mutter waren
vollkommen zersaust, als sie immer wieder das Mädchen in
den Armen wiegte, während sie bitterlich weinte. Ich konnte
nicht länger in der Nähe bleiben und ging zurück zu mei-
ner halb fertigen Hütte. Auf dem ganzen Heimweg dachte
ich an das kleine Mädchen, das keine Ahnung hatte, dass
es mir durch seine Rettung die Hoffnung selbst zurückge-
geben hatte. Die Welt hatte mich wieder und das nur, weil
das Leben dieses Mädchens in Gefahr gewesen war. Gottes
Wege schienen mir unergründlicher denn je. Doch wenigs-
tens konnte ich wieder fühlen, dass ich lebte. Ich würde aber
nicht hier bleiben können. Jemand könnte mich gesehen ha-
ben und wiedererkennen. Ich musste wieder weggehen und
erst dann wiederkommen, wenn niemand mehr am Leben
war, der sich an mich erinnern könnte.“
Plötzlich ergaben viele seiner Worte einen ganz anderen
Sinn. Er hatte solche Panik, dass mir etwas geschehen könn-
te. Besonders in der Nacht, in der ich ihn angefahren hatte.
Er schien sich für mein Leben verantwortlich zu fühlen, weil
er es gerettet hatte. Ohne Istvan wäre ich vermutlich seit
Jahren tot. Ich lebte nur weiter, weil es ihn gab. Ich musste
sofort zu ihm und ihm sagen, was ich fühlte, wie es in mir
aussah. Ich konnte nicht länger warten.
Ich lief aus meinem Haus. Die Tür ließ ich offen hinter
mir zurück. Ich hatte nur ein weißes T-Shirt und eine Jeans
an, doch die Kälte fühlte ich gar nicht. Das Einzige, was ich
in der Hand hatte, war das Notizbuch. Ich lief so schnell ich
konnte über den Waldrandweg und war in kürzester Zeit auf
seiner Veranda. Ich klopfte nicht einmal. Ich riss die Tür auf.
Sie krachte gegen die Wand. Er würde mich schon erwarten,
das wusste ich. Ich ging, ohne mich umzusehen, sofort ins
Schlafzimmer. Er war bereits da. Wartend. Auf mich. Ge-
190
nau, wie ich es mir vorgestellt hatte, stand er jetzt mitten im
Raum. Ein unbestimmter, nervöser Blick trat auf sein Ge-
sicht, als er mich erblickte. Ich atmete schwer und meine
Lungen brannten von dem Sprint, den ich hinter mir hatte.
Als ich jetzt, genau in diesem Moment, seine grünen Augen
auf mir sah, mit all dem, was ich jetzt wusste, konnte ich
keine Sekunde mehr länger warten. Ich stürzte mich atemlos
auf ihn. Er fing meinen Ansturm ab und riss mich ebenso
leidenschaftlich in die Arme. Ich schlang meine Arme um
seinen Hals und presste meine Lippen, beinahe unsanft, auf
seinen Mund. Ich konnte kaum atmen. Mein dummes Herz
pochte so stark, dass es mein Atemproblem verschlimmer-
te. Ich konnte zuerst keine Reaktion von Istvan fühlen. Ich
dachte schon, ich hätte einen überstürzten Fehler begangen,
und versuchte, mich aus der Umarmung zu lösen, und wich
etwas zurück. Dann, endlich, bekam ich meine Antwort.
Seine heißen Lippen umschlossen meine und ich versuchte,
meinen Kopf schräg zu halten, um noch tiefer in seinen Kuss
zu stürzen. Ich hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen.
Eine wilde, heiße Spirale drehte sich in meinem Inneren.
Wie lange hatte ich nicht geatmet? Der einzige Atem kam
von Istvan. Heiße, süße Honigluft, die mich schwindelig
machte. Doch dann, ohne Vorwarnung, stieß er mich weg
und ließ mich mitten im Raum stehen. Er presste seinen Rü-
cken gegen die Wand, als ob er so weit wie möglich von mir
weg wollte, dann sagte er etwas, was mir die Seele in Stücke
zerriss. Seine grünen Augen funkelten mich dabei ernst an:
„Du musst dich nicht bei mir auf diese Art bedanken,
jetzt, wo du es weißt. Du schuldest mir nichts!“
Ich schuldete ihm nichts?! Was sollte das heißen? Wofür
hielt er mich und wofür hielt er meinen leidenschaftlichen
Kuss? Gar für ein Zeichen meiner Dankbarkeit?
Ich war außer mir. Die Leidenschaft, die noch kurz zuvor
in mir getobt hatte, kochte jetzt über und verwandelte sich
in unbändigen Zorn. Wut, die ich nicht kontrollieren konnte,
übermannte mich.
191
Ich stellte mich dicht vor ihn. Vor lauter Zorn konnte ich
kaum atmen, so wütend war ich. Ich funkelte ihn finster an.
Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden absichtlich
verletzen wollen. Aber noch nie zuvor hatte mich jemand so
tief
Weitere Kostenlose Bücher